Schulterklappe der Baueinheit der NVA (Nationalen Volksarmee)
Bildrechte: picture alliance / dpa | Stefan Sauer

Vor 60 Jahren: Kriegsdienstverweigerung wird möglich Spaten statt Waffen - die Bausoldaten der DDR

18. Juni 2024, 10:14 Uhr

1964 wurde in der DDR für wehrpflichtige Christen und Pazifisten eine Nische geschaffen: der Dienst als Bausoldat. Doch für die Waffendienstverweigerer hieß das Drill, schlechte Versorgung und Überwachung. 1985 begehrten zwei von ihnen auf. Kurz darauf berichtete erstmals das Staatsorgan "Neues Deutschland" über Bausoldaten.

"Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden", hieß es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bis 2011. Wer aus Gewissensgründen keine Waffe in die Hand nehmen wollte, konnte einen zivilen Wehrersatzdienst absolvieren. So war es im Grundgesetz der Bundesrepublik bis 2011 vorgesehen.

Totgeschwiegenes Ärgernis

Doch was in Deutschland über Jahrzehnte selbstverständlich war, war in der DDR ein totgeschwiegenes Ärgernis. In keinem sozialistischen Land war eine Wehrdienstverweigerung vorgesehen, denn der Dienst an der Waffe diente nicht nur der Verteidigung des Landes, sondern vor allem einer Ideologie. So sah auch das 1962 erlassene Wehrpflichtgesetz der DDR keinerlei Ausnahmen zum Wehrdienst vor. Doch die Kirchen - allen voran der Theologe Emil Fuchs - drängten auf die Möglichkeit einer Kriegsdienstverweigerung. Mit Erfolg: 1964 wurden bei der Nationalen Volksarmee (NVA) Baueinheiten eingerichtet.

DDR-Lösung für Verweigerer

Mit dieser für die sozialistischen Länder einmaligen Lösung konnten Wehrpflichtige fortan "aus religiösen Anschauungen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst an der Waffe ablehnen". Nicht aber den Dienst bei der NVA: Wie alle anderen Wehrpflichtigen mussten sie 18 Monate dienen - in der Uniform der NVA und mit dem offiziellen Dienstgrad "Bausoldat".

Doch die Entscheidung gegen den Kriegsdienst blieb für Christen und Pazifisten hart erkauft. Der Staat hielt sie für Drückeberger, Staatsfeinde, Oppositionelle. Sie mussten mit besonderen Schikanen während und nach ihrem Dienst als Bausoldat rechnen.

Du, woran glaubt der, der nicht anlegt, der als Fahne vor sich her einen Spaten trägt?

Liedzeile aus "Glaubensfragen" der Klaus Renft Combo

Dienst als "Spatensoldat" kein Zuckerschlecken

Auf dem Schulterstück der NVA-Uniform trugen die Bausoldaten einen kleinen Spaten als Erkennungszeichen. "Spatensoldaten" nannten sie sich deshalb untereinander und blieben auch meist unter sich. Von anderen Einheiten weitgehend separiert, waren sie in der ganzen Republik stationiert und kamen zunächst beim Bau militärischer Anlagen und in den 80er-Jahren auch beim Aufbau der Bergbauindustrie zum Einsatz. Ihr Dienst war häufig besonders hart, die Verpflegung schlecht, harter Drill und Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit waren an der Tagesordnung.

Schulterklappe der Baueinheit der NVA (Nationalen Volksarmee)
Auch auf der Schulterklappe der Baueinheit der NVA (Nationalen Volksarmee) war der Spaten zu finden. Bildrechte: picture alliance / dpa | Stefan Sauer

Späte Rache des Staates

Wer den Kriegsdienst verweigerte, musste nicht selten damit rechnen, dass ihm auch nach dem Dienst bestimmte Ausbildungschancen verwehrt blieben. Ein Studium war in der Regel nur noch auf Umwegen möglich. Diese späte Rache des Staates erlebten auch ehemalige Bausoldaten wie der Liedermacher Gerhard Schöne oder der frühere Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee.

Renft besingt Tabuthema - die Band wird verboten

Klaus "Jenni" Renft
Klaus "Jenni" Renft Bildrechte: DRA

In den Medien der DDR wurde das Thema Bausoldaten ganz bewusst ausgeblendet. Die Öffentlichkeit sollte so wenig wie möglich von der Existenz dieser Truppe wissen. Als die Rockband "Klaus Renft Combo" Anfang der 70er-Jahre mit ihrem Song "Glaubensfragen" das Tabu berührte, ereilte sie von oberster Stelle der Vorwurf der Wehrkraftzersetzung. Kurze Zeit später wurde die Band - auch aus diesem Grund - verboten.

1985 Bausoldaten erstmals Thema in der DDR-Presse

Viele DDR-Bürger wussten lange nicht, dass es eine Möglichkeit gab, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Erst mit der Friedensbewegung der 1980er-Jahre erfuhr die Kriegsdienstverweigerung eine gewisse Popularität. 1985 wurde das Wort "Bausoldat" zum ersten Mal im Zentralorgan der SED "Neues Deutschland" gedruckt. Am Tag zuvor hatte der damalige Verteidigungsminister der DDR, Armeegeneral Heinz Hoffmann, ganz offiziell die in Prora stationierten Truppen besucht.

Wir sind nicht als Staatsfeinde empfangen worden, wir sind nicht als Staatsfeinde tituliert worden, wir sind als gleichberechtigte Partner mit unserer Gewissensentscheidung akzeptiert worden.

Andreas Ilse, 1983-1985 Bausoldat in Prora, Rügen

1990: Auflösung der NVA

Fünf Jahre später - am 1. März 1990 - ersetzte die Regierung unter Hans Modrow mit der "Verordnung über den Zivildienst in der DDR" die bisherige Regelung zum Wehrersatzdienst. Da waren die Baueinheiten bereits aufgelöst und die meisten der Bausoldaten entlassen. Letzter Verteidigungsminister der DDR wurde im März 1990 der Pfarrer und DDR-Oppositionelle Rainer Eppelmann. Damit begleitete am Ende ein einstiger Bausoldat die Auflösung der Nationalen Volksarmee.

Literatur Brösing, Thomas: Der Bausoldat, 284 S., Books on Demand 2008

Kranich, Sebastian:
Erst auf Christus hören, dann auf die Genossen. Bausoldatenbriefe: Merseburg, Wolfen, Welzow 1988/89, 471 S., Projekte-Verlag 2006

Wolter, Stefan: Hinterm Horizont allein - Der "Prinz" von Prora. Erfahrungen eines NVA-Bausoldaten, 348 S., Projekte-Verlag 2007

Ackermann, Lucas:
Bausoldaten-Blues. Erinnerungen eines Waffenverweigerers in der DDR, 253 S., Ludwig 2008

Zickmann, Jan: Option Bausoldat - Bausoldaten in der DDR. Von Gewissensentscheidungen und verdeckter Opposition, 92 S., Vdm Verlag Dr. Müller 2008

Wernicke, Joachim/Schwartz, Uwe: Der Koloss von Prora auf Rügen: Gestern - heute - morgen, 156 S., Langewiesche 2006

Der Artikel erschien erstmals 2011.

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