Rio Reisers Konzerte in Ost-Berlin
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22. November 2021, 16:58 Uhr
Im Oktober 1988 kam der Politrocker Rio Reiser auf Einladung der FDJ zu zwei Konzerten nach Ost-Berlin. Den legendären "Ton Steine Scherben"-Song "Keine Macht für niemand" durfte Reiser im Arbeiter- und Bauernstaat allerdings nicht singen.
Die 1980er Jahre in der DDR waren geprägt von einer "lähmenden Langeweile", wie sich der Musiker Lutz Kerschowski erinnert. An der Staatsspitze die gleichen alten Männer wie seit 40 Jahren, auf den Konzertbühnen die gleichen DDR-Bands, die man schon viel zu oft gehört hatte. Das pralle Leben fand - wie immer - anderswo statt. Zwar regten sich zarte Pflanzen - politischer Widerstand, Opposition, Punkbands entstanden -, aber in der Öffentlichkeit herrschte Lethargie, Stillstand, ja Agonie.
"Die Mauer muss weg!"
So kam es, dass sich zu Pfingsten 1987 über tausend junger DDR-Bürger am Brandenburger Tor drängten, um die Töne zu erhaschen, die von der Westseite herüberwehten: Vor dem Reichstag spielten David Bowie, die Eurythmics, Genesis. Bowie grüsste die Ostberliner sogar auf Deutsch und sang "Heroes", das von einer großen Liebe und der Mauer handelt, von den Schüssen, die ihnen nichts anhaben könnten.
Polizei und Stasi drängten die Musikfans ab. Die wollten sich das nicht gefallen lassen: Steine flogen, Flaschen; Rufe schallten durch die Dunkelheit, nach Gorbatschow, nach Perestroika, nach Freiheit, gegen "Russen" und "Bullenschweine". Die Jugendlichen sangen die "Internationale" und riefen dann: "Die Mauer muss weg!" Und das vor Westreportern! Schlagstöcke flogen, Hundestaffeln vertrieben die Jugendlichen, es gab Verhaftungen. Drei Abende lang wiederholt sich das Schauspiel. Danach herrschte wieder Friedhofsruhe.
FDJ-Kulturfunktionär holt Reiser nach Ost-Berlin
Die DDR-Führung reagierte prompt: SED-Chefideologe Kurt Hager wies das Kulturministerium und die FDJ an, mehr attraktive Rock-Konzerte zu veranstalten. Wenn die Jugendlichen auch im Osten die internationalen oder zumindest westdeutschen Stars hören könnten, dann wäre der Frieden wiederhergestellt - so die Überlegung. In der FDJ, sowohl im Zentralrat als auch in den Bezirksleitungen, gab es ja durchaus Interesse an jugendgemäßen Konzerten. In der Berliner FDJ-Bezirksleitung war Rainer Börner Kultursekretär. Er hatte schon Konzerte mit Barclay James Harvest und Joe Cocker organisiert, als er im Sommer 1988 mitbekam, dass der Zentralrat der FDJ dabei war, die Chance zu verspielen, Rio Reiser für ein Konzert nach Ost-Berlin zu holen. Börner bot an, das Konzert über die Bezirksleitung zu organisieren, dann würden die Probleme an ihm hängenbleiben, wenn etwas schiefging - was bei einem anarchistischen Geist wie Rio Reiser nicht ausgeschlossen war.
Eine Vorband aus Ost-Berlin
Börner hatte die Werner-Seelenbinder-Halle ohnehin für eine Woche angemietet, zwei Abende waren noch frei, der 1. und der 2. Oktober 1988. In der ehemaligen Fleisch-Großmarkthalle hatte SED-Chef Walter Ulbricht 1952 den planmäßigen Aufbau des Sozialismus verkündet. Nun fanden dort Radrennen, Boxkämpfe und Rockkonzerte statt. Als Vorband für Rio Reiser verpflichtete Börner Kerschowski, eine Ost-Berliner Band, die einen satten, ehrlichen Rock'n'Roll spielte. Bandchef Lutz Kerschowski hatte Bedenken zuzusagen, schließlich waren im gleichen Jahr Bockwürste, Milchtüten und Buh-Rufe auf die Bühne geflogen, wenn DDR-Bands vor den West-Stars spielten. Trotzdem sagte er zu: Zu groß war die Chance, die Lust, vor 6.000 Menschen zu spielen, noch dazu vor Rio Reiser, der die deutsche Rockmusik wie kaum ein anderer geprägt hat.
Vom Politiker zum Popstar
Rio Reiser feierte in den späten 1980ern seine größten kommerziellen Erfolge. Sein Hit "König von Deutschland" lief landauf, landab, im Radio und in Diskotheken, in Ost wie West. Aus dem Sänger der anarchistischen Polit-Rock-Band "Ton, Steine, Scherben" war ein Popstar geworden, der erstmals in seinem Leben richtig Geld verdiente.
Die beiden Konzerte in Ost-Berlin sollten den Abschluss der Tournee bilden. Rio Reiser war froh, endlich einmal in der DDR zu spielen. Sein langjähriger Freund, Bandkollege und Gitarrist R.P.S. Lanrue erinnert sich, dass sie zwar von den Grenzschikanen der Stasi genervt waren, wenn sie im Transit von West-Berlin in die BRD fuhren, dass sie aber den verstaubten Charme der DDR irgendwie mochten: "Wir mussten ja manchmal über die Dörfer fahren und haben uns gefreut: Keine Coca-Cola-Werbung! Wir fanden das ziemlich gut." Reisers Band reiste schon einen Tag vor dem Konzert an, zum Sightseeing in Ost-Berlin. Das Hotel war – für Westmaßstäbe – lausig, das Bad über den Flur, aber die Veranstalter, das Jugendradio DT 64, bemühten sich, den Aufenthalt trotzdem angenehm zu machen.
"Alles Lüge!"
Am 1. Oktober dann ging es los, DDR-typisch recht früh, Einlass war 18 Uhr, Konzertbeginn 19 Uhr. Filmaufnahmen zeigen junge Leute in Stonewashed-Jeans, Männer mit Schnauzbärten, junge Frauen mit Dauerwelle in die Halle stürmen. Kerschowski begann pünktlich, aber ohne Gitarristen zu spielen: Der war, den strengen Sicherheitsregeln geschuldet, aus Versehen in der Toilette eingeschlossen worden. Seinen Auftritt garnierte Lutz Kerschowski mit aufmüpfigen Sprüchen von den alten Männern, die zu lange und zu steif "da oben" sitzen und bestimmen, von zu wenig Jungs und Mädchen, die dagegen aufbegehren. Kerschowski spielte 50 Minuten, ab dem zweiten Titel auch mit Gitarristen, erntete Beifall und musste sogar eine Zugabe geben.
Und dann, nach der Umbaupause, endlich: Grüner Nebel, blaue Scheinwerfer, und heraus tritt lächelnd ein schmaler Mann in Röhrenjeans und Sakko, eine Schiebermütze auf dem Kopf: Rio Reiser! Links neben ihm im weißen Hemd, Strohhut und Gitarre: Lanrue. Die beiden, die das Herz von "Ton, Steine, Scherben" gewesen waren, die "Keine Macht für niemand" und "Macht kaputt, was euch kaputt macht" gesungen hatten, hier in der piefigen Republik der alten Männer! Die Fans singen jede Zeile mit, tanzen, manche mit Tränen in den Augen, schwenken schwarz-rote Anarcho-Fahnen. Rio beginnt mit "Alles Lüge". Ein Spaßsong, gewiss, aber in der DDR ist nichts nur Spaß, hier kann man nicht "Alles Lüge" singen, ohne dass sich das Publikum seinen Teil dazu denkt. "Blinder Passagier", "Bis ans Ende der Welt", und dann endlich der erste "Scherben"-Titel: "Jenseits von Eden". Das ist die schwarze, die abgründige Seite Rio Reisers, die ihn Meilen von plattem Spaß und Neuer Deutscher Welle enthebt.
"Dieses Land ist es nicht!"
Bei "Halt dich an deiner Liebe fest" sitzt Rio barfuß auf dem Bühnenrand und rührt auch die, die schon lange genug von Liebesliedern haben. Kein schöner Mann, ein schmächtiges Kerlchen, schwitzend, ungesund aussehend – und von einem Charisma, das uns noch heute in den Bann schlägt, wenn wir die Konzertaufzeichnung anschauen. Rio greift den Leuten ins Herz. Er spielt sich durch seine Solo-Hits, natürlich "König von Deutschland" und "Junimond", bringt viel von den Scherben, die hier im Osten ja noch nie jemand gesehen hat. Und dann, kurz vor den Zugaben, "Der Traum ist aus". Rio allein am Keyboard. Als er anhebt zu singen, ist das Publikum wie mit einer Stimme dabei:
"Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei,
du warst hier und wir war'n frei
und die Morgensonne schien."
Er erträumt ein Land im Frieden, mit freien Menschen. Ein naiver Traum, gewiss.
"Der Traum ist aus!
Aber ich werde alles geben,
dass er Wirklichkeit wird."
Selbst, wer den Text nicht kennt, begreift noch in Sekundenbruchteilen, was er hier, 1988 in der DDR, bedeutet:
"Gibt es ein Land auf der Erde,
wo der Traum Wirklichkeit ist?
Ich weiß es wirklich nicht.
Ich weiß nur eins und da bin ich sicher:
Dieses Land ist es nicht."
Hoffnung auf ein anderes Leben
Der Saal scheint zu bersten, das Publikum ist Rio voraus, singt, schreit, wütet mit, lässt den ganzen Frust über dieses verschlafene, zugesperrte Land in Agonie heraus. "Der Traum ist aus", 1972 im antikapitalistischen Impetus geschrieben, wirkt 1988 in Ostberlin so frisch, so nah an den Gefühlen der Menschen, dass er genau für diesen Moment gemacht scheint. Wer dabei war, vergisst den Moment nicht wieder. Wer ihn heute hört, spürt noch immer die Wucht des Augenblicks, in dem sich alles ballt: Wut, Frust, Ohnmacht und die Hoffnung, dass es doch einmal anders sein wird.
"Ein heißer Sommer wartet vor der Tür"...
Das Konzert wiederholt sich am zweiten Abend fast identisch. Lutz Kerschowski macht die gleichen launigen Sprüche, die die FDJ-Funktionäre schon nach dem ersten Abend beklagt hatten – der FDJ-Kultursekretär Rainer Börner hat die Klagen aber einfach nicht an Lutz Kerschowski weitergeleitet. Dafür musste er später eine Stellungnahme schreiben. Rio Reiser singt die gleichen Songs, bei "Der Traum ist aus" bricht das Publikum ebenso wie am Abend zuvor in Jubel, Schreien und Begeisterung aus. Nur das Konzertende variiert: Rio Reiser hatte am ersten Abend Gefallen an Kerschowski gefunden und mit ihnen zusammen eine gemeinsame Zugabe geprobt, Eddie Cochrans "Summertime Blues". Rio singt herrlich schnodderig das englische Original, Lutz Kerschowski seine wunderbare Übersetzung. Vier Gitarren schneiden sich in den Saal, ein Saxophon tupft Akzente. Lutz und Rio improvisieren, haben sichtbar Spaß miteinander. "Ein heißer Sommer wartet vor der Tür" schließt der Refrain und damit das Lied. Das war im Oktober 1988. Im nächsten Sommer sollte sich die Welt verändern, als im Ostblock der Stacheldraht und die Angst wichen.
Mehr zu Rio Reiser Rio Reiser, eigentlich Ralph Christian Möbius, wurde 1950 in Berlin geboren. Von 1970 bis 1985 war er Texter und Sänger der Politrockband "Ton Steine Scherben": Reisers Songs wie etwa "Keine Macht für niemand" oder "Macht kaputt, was euch kaputt macht" (der im Auftrag der RAF entstanden sein soll) avancierten zu Kultsongs der Linken in der Bundesrepublik. 1985 startete er eine erfolgreiche Solokarriere. Rio Reiser starb 1996.
Über dieses Thema berichtete der MDR in "Brisant" 18.10.2019 | 17:15 Uhr