"Passt auf, dass ihr euch keinen Splitter einzieht"
Wir standen auf dem Podium des Speisesaales im Leipziger Sportforum und fühlten uns wie auf der Bühne von Woodstock. Wir waren Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Joe Cocker, je nach dem, welchen Titel wir auflegten. Uns interessierten nicht die verordneten 60 Prozent Ost-Titel, wir spielten die Musik, die wir mit unseren Tonbandgeräten erjagt hatten. Und am Ende des Abends gab es immer dasselbe Lied: "Give peace a chance". John Lennon war der einzige Beatle, den ich leiden konnte, was vielleicht daran lag, dass wir am gleichen Tag Geburtstag haben.
Wie im Film knieten wir uns im Kreis auf den Boden und schlugen im Takt auf die geölten Dielenbretter an. "All we are saying, give peace a chance." Wir schlugen und schlugen und warteten, die Polizei käme, um uns herauszutragen. Am Ende vom Lied hatten wir alle schwarze Hände, und der Wirt sagte: Passt auf, dass ihr euch keinen Splitter einzieht.
Ein Auftritt mit Renft
Auf wundersame Weise war der Beat Teil unseres sozialistischen Lebens geworden, und zur Krönung des neuen Zeitalters sollten die Gruppe "Renft" in "Rund" auftreten. "Rund" war eine Fernsehsendung, von der kein Beatfan zugab, dass er sie sah. Die Moderatoren trugen FDJ-Hemden, sprachen von den Errungenschaften des Sozialismus und der Jugend als Kampfreserve der Partei. Und alle Zuschauer warteten darauf, dass endlich eine West-Gruppe auftreten würde.
Bei "Renft" war alles anders. Nur mit Mühe bekam ich eine Eintrittskarte für die Fernsehaufzeichnung. Ich ertrug einen Beitrag über die "Messe der Meister von Morgen", ließ ein "Slade"-Imitat aus Dänemark und einige Hardrock-Simulanten aus den befreundeten sozialistischen Ländern über mich ergehen und rückte immer näher an die Bühne heran. Als "Renft" endlich kam, stand ich in der ersten Reihe. Doch auch das war noch zu steigern, denn die Musiker winkten uns auf die Bühne. Und so stand ich neben "Monster" und sang mit allen: "Nach der Schlacht waren die Wiesen rot, nach der Schlacht waren viele Kameraden tot." Niemand dachte daran, uns zu verhaften, das einzige, was auf uns gerichtet war, blieben die Kameras. Ich freute mich darauf, dass mich meine Freunde so im Fernsehen sehen würden.
Am Sendetag sah ich sie alle wieder: Die Helden der Neuererbewegung, die Hardrocksimulanten, den "Slade"-Ersatz. Danach war Schluss. Die Gruppe Renft und ich waren aus der Sendung herausgeschnitten worden.
Renft statt Lennon als Zeichen des Protests
"Das Leben ist wie Lotto, die Kreuze macht ein Funktionär", sang "Renft" in einem neuen Lied, und die Funktionäre der "Konzert- und Gastspieldirektion" griffen den Vorschlag auf, machten ein letztes Kreuz und verboten Renft wegen "Diffamierung der Arbeiterklasse". Der Band-Leader verließ das Land, drei Musiker wurden verhaftet und wir spielten als Zeichen unserer Auflehnung am Ende der Diskothek nicht mehr Lennon, sondern "Renft". Für alle, die im Land blieben, gab es zur Beruhigung Westplatten auf Amiga-Lizenz, und der volkseigene Handel verkaufte echte Jeans.
Kurzbiografie der Autorin
Kathrin Aehnlich wurde 1957 in Leipzig geboren. Nach einem Ingenieur-Studium studierte sie von 1985 bis 1988 am Leipziger Literaturinstitut und veröffentlichte Hörspiele und Erzählungen.
1989 Beginn der journalistischen Arbeit für die unabhängige Wochenzeitung "Die andere Zeitung" (DAZ), dann erste Hörfunk-Dokumentationen. Seit 1992 ist sie Feature-Redakteurin bei MDR FIGARO.
Kathrin Aehnlich ist Autorin und Regisseurin von zahlreichen Features und Dokumentarfilmen und schreibt Erzählungen und Romane. Ihr Roman "Alle sterben, auch die Löffelstöre" (2007) war ein Bestseller.
Eigentlich aber wäre Kathrin Aehnlich gern Rockmusikerin geworden: "Ich muss Bücher schreiben", sagt sie, "weil ich nicht singen kann."