Literatur Kinderbücher in der DDR - Beeindruckende Fülle
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29. November 2021, 10:40 Uhr
An Kinder- und Jugendbüchern herrschte in der DDR kein Mangel. Doch nicht nur die Fülle war beeindruckend, auch qualitativ mussten die Bücher keinen internationalen Vergleich scheuen.
Im Juni 1989 wurde in der "Katholischen Akademie" in Hamburg eine Ausstellung eröffnet: "Bücher und Bilder – Zeitgenössische Kinderliteratur der DDR". Es handelte sich um die größte Buchausstellung, die die DDR jemals im Ausland veranstaltete. Mehr als 1.000 Kinderbücher und Illustrationen wurden präsentiert. Aus diesem Anlass durften sogar 20 Kinderbuchautoren aus dem Osten Deutschlands in die Hansestadt reisen. Bundesdeutsche Fachleute zeigten sich verblüfft, denn sie mussten feststellen, dass die lang gehegte Ansicht, nach der die DDR-Kinder- und Jugendliteratur generell von Ideologie durchsetzt sei, nicht länger haltbar war.
Hervorragendes Niveau
Man müsse das Klischee begraben, dass in der Kinderliteratur der DDR "nur Einerlei und langweilige sozialistische Berieselung herrsche", äußerte der Leiter des Instituts für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt, Prof. Dr. Klaus Doderer. Auch die Illustrationen zeichnen sich durch ein "hervorragendes Niveau aus", wie der Hamburger Kunstprofessor Martin Andersch konstatierte. Dabei seien die Themen, die die DDR-Kinderbuchautoren behandeln, so Klaus Doderer, im Grunde dieselben wie in bundesdeutschen Kinderbüchern: zerrüttete Familien, Scheidung der Eltern, Generationskonflikte und Umweltzerstörung. Und nicht zuletzt könnten sich auch die Auflagen, die Kinderbücher in der DDR erreichten, international durchaus sehen lassen.
Kein Mangel an Kinderbüchern
Und in der Tat: Bei Kinder- und Jugendbüchern herrschte im Land der ewigen Knappheit eine durchaus beeindruckende Fülle. Allein im Kinderbuchverlag Berlin erschienen von 1949 bis 1989 knapp 5.000 Titel mit einer Gesamtauflage von etwa 300 Millionen Exemplaren. Doch das war nur die eine Seite, die andere: Kaum einer der namhaften Autoren der DDR war sich zu schade, für Kinder zu schreiben. Bertolt Brecht und Peter Hacks schrieben ebenso Gedichte und Geschichten für Kinder wie Erwin Strittmatter, Stefan Heym, Volker Braun, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Werner Heiduczek, Franz Fühmann, Christoph Hein oder Thomas Rosenlöcher.
Auch die Mehrzahl der etwa 250 Autoren, die in den achtziger Jahren ausschließlich für Kinder schrieben, musste sich keineswegs verstecken. Unter ihnen gab es etliche, deren Bücher auch in westeuropäischen Verlagen erschienen: Benno Pludra, Elizabeth Shaw, Liselotte Welskopf-Henrich, Gerhard Holtz-Baumert, Christa Kozik. Und auch die Qualifikation der maßgeblichen Illustratoren war über jeden Zweifel erhaben: Volker Pfüller, Egbert Herfurth, Werner Klemke oder Klaus Ensikat – um nur einige zu nennen - waren weit über die Grenzen der DDR hinaus bekannt.
Kinderbücher als Mittel der ideologischen Beeinflussung
Die Bedeutung von Kinder- und Jugendliteratur als einem hervorragenden Medium zur ideologischen Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen hatte die SED von Anfang an erkannt und 1950 gefordert: "Es ist eine hohe Pflicht aller Schriftsteller und Dichter, an der Schaffung einer neuen Kinder- und Jugendliteratur mitzuwirken, die die demokratische Erziehung der heranwachsenden Generation fördert." Und die SED untermauerte ihre Forderung auch ganz praktisch: Allein dem Kinderbuchverlag standen in den fünfziger Jahren 628 Tonnen Papier zur Verfügung, während für die gesamte Erwachsenenenliteratur lediglich 3.000 Tonnen bereitgestellt wurden.
Sozialistischer Realismus
In den fünfziger und sechziger Jahren galt bei der Kinder- und Jugendliteratur ebenso wie in allen Bereichen der Kunst ausnahmslos die Parole vom "sozialistischen Realismus". Abgesehen vom verordneten Optimismus, der auch alle Texte für Kinder und Jugendliche durchwehte, war ein wesentliches Signum, dass Kindheit damals nicht als eine eigene Form des Daseins begriffen wurde, sondern kindliche Selbstverwirklichung unauflöslich mit gesellschaftlichen Erscheinungen verquickt war. Exemplarisch stehen dafür Erwin Strittmatters "Tinko", Ludwig Renns "Camilo" und ganz besonders die Romane sowjetischer Autoren. "Timur und sein Trupp" oder "Wie der Stahl gehärtet wurde" etwa, die jedes Schulkind in der DDR lesen musste und die davon handeln, wie Kinder und Jugendliche ihren "Beitrag beim Aufbau des Sozialismus leisten können".
Phantasie statt Dogmatismus
Ende der sechziger Jahre vollzog sich in der Kinder- und Jugendliteratur der DDR allerdings ein grundlegender Wandel. Der Optimismus der Aufbaujahre war verbraucht und die Autoren sprengten zunehmend die engen Grenzen des "sozialistischen Realismus". Verbunden war diese Veränderung "mit einer bis dahin ungewöhnlichen Schärfe der Konfliktgestaltung", wie die Germanistin Karin Richter analysiert. Eine glückliche Kindheit schien nur dann möglich zu sein, wenn sich grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft vollziehen. "Das Kind ist in den Romanen nun häufig so angelegt", schreibt Richter, "dass seine Vorstellungen vom Leben einen Gegenentwurf" zur bedrohlich erscheinenden Welt der Erwachsenen darstellen.
Zensur bei Kinder- und Jugendbüchern
"Heute fragt mich jeder: Was ist denn damals verboten worden?", sagt Katrin Pieper, langjährige Cheflektorin des Kinderbuchverlags Berlin, dem größten Verlag für Kinder- und Jugendbücher in der DDR. Dabei war dies weniger eine Frage "des Verbietens, als vielmehr der Hartnäckigkeit, mit der man um ein Buch kämpfte", sagt Katrin Pieper und zitiert die Kinderbuchautorin Christa Kozik, die auf die Frage nach Zensur einmal antwortete: "Wenn man nur hartnäckig genug war, hat man auch alles durchgekriegt." Dennoch gab es zuweilen harte Auseinandersetzungen mit dem Ministerium für Kultur, erinnert sich Katrin Pieper. Etwa um Werner Heiduczeks "Der kleine hässliche Vogel" oder um die Bücher Christa Koziks. Letztlich durften sie erscheinen und wurden große Erfolge, auch außerhalb der DDR.
Kindern ihre Kindlichkeit möglichst lange bewahren
Die Dichter und Autoren hatten über all die Jahre hin stets einen eigenen Anreiz, für Kinder zu schreiben. 1976 formulierte der Dichter Rainer Kirsch das in einer Umfrage so: "Kinder sind Unordnungsfaktoren in der Welt, Dichter auch. Texte für Kinder haben aber natürlich ebenso präzise zu sein wie solche für Erwachsene. So kann oder könnte alle Kinderliteratur, die den Namen verdient, auch von Erwachsenen mit Genuss gelesen werden. Pädagogisch geredet: In einer Umgebung, die mit verbissener Geduld dabei ist, Kinder ab spätestens acht erwachsen zu machen, versuchen Dichter, die für Kinder schreiben, diesen ihre Kindlichkeit möglichst lange zu bewahren. Wie lange? Ideal wäre: bis zum siebzigsten Jahr. Einstein hat in diesem Alter dem Universum die Zunge herausgestreckt."
Neuanfang im vereinten Deutschland
Nach dem Ende der DDR sahen sich die Kinderbuchautoren mit einer ihnen gänzlich fremden Verlagswelt konfrontiert. Nicht nur, dass viele von ihnen quasi über Nacht ihre Verlage verloren. Sie mussten zudem erkennen, dass Bücher jetzt nur noch ein Medium neben anderen waren und statt des Zensors jetzt die Marketingabteilung über Wohl und Wehe eines Buchs entschied. Doch auch die konkreten Arbeitsbedingungen hatten sich merklich verändert. Der Kinderbuchautor und Illustrator Manfred Bofinger: "Was eindeutig nachgelassen hat, ist die Lektoratsarbeit, also die Beziehung Autor, Lektor und Illustrator. Es gibt in den Verlagen keine Gestaltungsabteilung mehr und auch keine Lektoratsabteilung für Illustration. Im Kinderbuchverlag gab es allein in dieser Abteilung fünfzehn Mitarbeiter und einen künstlerischen Leiter." Bofingers Resümee: "In einem armen Land lassen sich mehr Dinge machen als in einem reichen. Da wurden auch viele Dinge gemacht, ohne einen ökonomischen Hintergrund."
(Zitate aus: Der Spiegel, 05.06.1989; Rainer Kirsch, Amt des Dichters, Hinstorff 1976; Annette Kautt, Gespräch mit Manfred Bofinger, www.deutsch-digital.de; Karin Richter: Kinder- und Jugendliteratur der DDR. Baltmannsweiler 2000)
Dieses Thema im Programm: Können Bücher Heimat sein? | 29. Mai 2021 | 22:50 Uhr