DDR-Bürger im Ausland Als Dolmetscherin im Irak
Hauptinhalt
19. November 2021, 11:14 Uhr
Es ging um nichts Geringeres als die Anerkennung eines kleinen, zweiten deutschen Staates, der DDR, auf dem internationalen Parkett. Mitte der 1960er-Jahre weitgehend isoliert und nicht anerkannt, wandte sich die DDR außenpolitisch den aufstrebenden arabischen Staaten zu. Für viele, die in den diplomatischen Dienst traten, wurde diese Politik zu einem ganz persönlichen Abenteuer. Eine von ihnen: Helga Lindner aus Berlin.
Andere Länder - andere Sitten
Helga Lindner war gerade einmal Mitte 20 und hochschwanger, als sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in den Irak kam. Sie waren die Vorboten eines Landes, das international um Anerkennung kämpfte. Beide arbeiteten sie in Bagdad in der Handelsvertretung der DDR: Er als Außenhändler und sie als Dolmetscherin. Doch wie unterschiedlich das Leben im Nahen Osten zu dem in der DDR sein sollte, erfuhren sie bald. Denn in den viereinhalb Jahren, die sie im Irak verbrachten, "gab es drei Ausnahmezustände, mindestens zwölf Regierungsumbildungen und zwei tote Präsidenten, die vom Himmel fielen", erinnert sich Helga Lindner.
Es waren aber auch alltägliche Dinge, die das Leben in der Ferne bestimmten: Man fuhr keinen Trabant, sondern einen Chevy, für die Betreuung der Kinder gab es keinen Kindergarten, sondern eine Nanny, und statt einer modernen Plattenbauwohnung stand den Lindners ein Mehrfamilienhaus zur Verfügung. Die Geburt der Tochter in dem über 4.000 km entfernten Land ist Helga Lindner in lebhafter Erinnerung:
Ich hatte etwas Schwierigkeiten, mich mit den Hebammen auseinanderzusetzen, die mich immer beschimpften: 'Don't be so lazy, don't be so lazy.' - Ich sollte also nicht so faul sein und öfter pressen. Und ich fand mich mit zwei Stunden eigentlich ganz hervorragend, aber neben mir entband eine, die ihr 11. Kind kriegte und es flutsche nur so raus. Und da waren sie zufrieden.
Wenn Helga Lindner über ihre Zeit im Irak spricht, dann benutzt sie vor allem das Wort "intensiv". Alles war intensiv, die Gerüche, die religiösen Riten, das Feilschen auf dem Basar und auch das arabische Frauenbild, das sie aus der DDR so nicht kannte. Miniröcke waren verpönt und eine Frau, die sich allein auf der Straße bewegte, eine Seltenheit. Schnell passte sie sich den Gegebenheiten an, denn eine Frau, die mit unbedeckten und unrasierten Beinen auf der Straße gesehen wurde, berichtet Helga Lindner, wurde auch gerne mal von den Männern an den Haaren gezogen. Ein schockierendes Erlebnis für die junge Frau.
Mit Auftrag im Irak
Das junge Paar hatte aber auch einen politischen Auftrag. Schließlich hoffte man in Berlin, über die Wirtschaftsbeziehungen zum Irak und zu anderen arabischen Ländern auch zu internationaler Anerkennung zu kommen. Für Helga Lindner gab es bald eine persönliche Komponente: Die junge Frau begann, sich tiefgründiger mit der arabischen Welt zu beschäftigen.
Längst waren auch die Sphären im Nahen Osten aufgeteilt: Die Bundesrepublik stand politisch an der Seite Israels, das sozialistische Lager an der Seite der arabischen Staaten. Technisches Know-How wurde von der DDR in den Irak exportiert, auch der Warenhandel florierte. Als Helga Lindner einen traditionellen Gebetsteppich kaufen wollte, machte sie eine erstaunliche Entdeckung. Denn auf der Rückseite des Teppichs fand sie die Aufschrift "Made in Kirschau/Sachsen". Sehr verblüfft sei sie darüber gewesen, so Helga Lindner.
Zerbrechlicher Frieden
Das Leben auf dem Pulverfass Naher Osten wurde für die junge Familie bald zur Normalität und schließlich führte das Engagement der DDR im Irak auch zu einem Erfolg. Seit Januar 1967 flog die DDR Fluglinie "Interflug" regelmäßig nach Bagdad. Als 1969 der DDR-Außenminister in den Irak kam, war die DDR durch den Irak anerkannt. Doch wie zerbrechlich der Frieden im Nahen Osten damals war, erlebte Helga Lindner ausgerechnet an ihrem 31. Geburtstag. Neun Juden wurden damals öffentlich hingerichtet, ein schreckliches Erlebnis, auch für die junge Frau:
Wir haben gesehen, wie Männer ihre Kinder auf den Schultern hatten, die dann die Erhängten an den Füßen zogen. Und Schilder wurden den Toten umgehängt. Auf denen stand 'Ich bin ein israelischer Spion'... Das war sehr erschreckend.
Das Land war in Aufruhr, die Dolmetscherin verließ mit ihren Kindern drei Tage lang nicht das Haus. Keine sechs Monate später, im August 1969, verließ sie das Land endgültig. Im Gepäck hatte sie den Hauch des Orients und viele Erinnerungen, von denen sie noch heute zehrt.