Stalins Erbe in der DDR Ulbricht: "Entstalinisierung kommt bei uns nicht in Frage, Genossen!"
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01. Februar 2022, 15:06 Uhr
Auf dem XX. Parteitag der KPdSU rechnete Chruschtschow mit Stalin ab. Eine Entstalinisierung in der DDR erachtete Walter Ulbricht als unnötig, weil es keinen Stalinismus gegeben habe …
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Wie hatte es doch noch 1953, beim Tod Josef Stalins, des "geliebten Führers" und des "bedeutendsten Menschen der Welt", geklungen: Walter Ulbricht bekannte, "um seinen Vater" zu trauern und beteuerte, ihm "stets die Treue zu halten". "Der Ruhm Stalins wird Jahrhunderte überdauern", sein Werk sei "unsterblich", prophezeite Kurt Hager, nachmaliger Chefideologe der SED. Und der Kulturminister und Staatsdichter Johannes R. Becher verfasste eine schier endlose Hymne auf den "Ewig Lebenden"…
Keine drei Jahre später aber stieß KP-Chef Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 seinen Vorgänger vom Sockel: Er warf ihm Machtmissbrauch, "Größenwahn" und Massenterror vor. Seine Ausführungen sorgten bei den Genossen in Ost-Berlin für größte Irritationen. Sie waren darauf auch nicht im Geringsten vorbereitet.
"Wir müssen es tun!"
"Es lebe die unbesiegbare Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin" – so hieß es noch in der Grußbotschaft der SED an den XX. Parteitag der sowjetischen Genossen. Dann wurden Walter Ulbricht und Otto Grotewohl, die als Gäste des Parteitags nach Moskau eingeladen waren, von Chruschtschow in einer internen Sitzung über sein streng geheimes Vorhaben informiert, Stalin in einer Rede vor einigen ausgesuchten Genossen zu verdammen. Walter Ulbricht war strikt gegen eine Kritik an Stalin - er fürchtete negative Auswirkungen in den sozialistischen Ländern. Chruschtschow aber ließ sich nicht umstimmen, er entschied: "Wir müssen es tun!" Ulbricht fügte sich. Der erfahrene Intrigant und Vasall Stalins erkannte sofort die Brisanz, die diesem Parteitag und vor allem der Rede Chruschtschows innewohnen würde. Und er erkannte ebenso schnell, dass es auch um sein eigenes politisches Überleben gehen könnte.
"Entstalinisierung kommt nicht in Frage!"
Wieder in Berlin, hielt Ulbricht vor hohen Parteigenossen sofort eine scharfe Rede gegen Stalin, wies seine Genossen im Übrigen aber an, dass in der SED in den kommenden Wochen und Monaten nur "über Planerfüllung und noch einmal Planerfüllung diskutiert" werden solle. Stalin dürfe keine Rolle spielen. Und wie zur Beruhigung der Genossen, fügte er am Schluss noch hinzu: "Entstalinisierung wie in Polen und Ungarn kommt bei uns nicht in Frage!"
Kein "Klassiker" mehr
"Keine Fehlerdiskussion, Genossen!" – das war Ulbrichts Devise, die er am 4. März 1956 im "Neuen Deutschland", dem Zentralorgan der SED, verkündete. Wie nebenbei ließ er in seinem Artikel auch noch den Satz fallen, dass Stalin fortan kein "Klassiker" mehr sei: "Als sich Stalin über die Partei stellte und den Personenkult pflegte, erwuchsen der KPdSU und dem Sowjetstaat daraus bedeutende Schäden", schrieb Ulbricht. "Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen." Aus dem Viergestirn – Marx, Engels, Lenin und Stalin – wurde das bis ans Ende der sozialistischen Tage gültige Dreigestirn der kommunistischen Welt. Von den Abermillionen Opfern des Stalinschen Terrors, von Stalins Pakt mit Hitler 1939 – darüber verlor Ulbricht kein Wort. Und natürlich auch nicht von den systemimmanenten Strukturen, die Stalin erst möglich gemacht hatten. Aber die hatte Chruschtschow in seiner Geheimrede schließlich auch nicht erwähnt.
"In der DDR gab es keinen Personenkult"
Auf der 3. Parteikonferenz der SED Ende März 1956 versuchte Ulbricht, Stalin als ein eher zu vernachlässigendes Problem zu verharmlosen, obgleich der Sturz Stalins die kommunistische Welt natürlich in ihren Grundfesten erschüttert hatte. Im Verlauf der Konferenz erklärte der SED-Chef dann, dass es in der DDR zu keiner Zeit einen Personenkult gegeben habe und auch keinerlei Übergriffe des Staates auf Einzelne. Daher müsse in der DDR auch keine "Entstalinisierung" betrieben werden. Die Debatte sollte damit in der DDR beendet werden. Die Urteile der wegen so genannter "staatsfeindlicher Vergehen" Verurteilten würden jedoch, so Ulbricht weiter, überprüft werden. Und tatsächlich wurden im Verlauf des Jahres etwa 21.000 politische Gefangene aus den Zuchthäusern der Republik entlassen.
"Wir wollen weg vom Stalinismus"
Niederschlag fand Chruschtschows Abrechnung mit Stalin auf dem XX. Parteitag unter Künstlern und Intellektuellen. Der Germanist Hans Mayer wandte sich gegen Stalins Diktum, wonach die Schriftsteller "Ingenieure der Seele" seien, die jungen Dichter Manfred Streubel, Heinz Kahlau, Manfred Bieler und Jens Gerlach forderten auf dem "Kongress junger Künstler" im Juli 1956 in Karl-Marx-Stadt Freiheit für die Kunst, der Philosoph Ernst Bloch rief in Leipzig nach einer Überwindung des Stalinismus und Walter Janka und Wolfgang Harich forderten: "Wir wollen weg vom Stalinismus" ...
Es war dies die kurze Phase des sogenannten "Tauwetters" nach dem XX. Parteitag. Vieles schien möglich zu sein. Doch nach der blutigen Niederschlagung des Ungarn-Aufstands im November 1956 war es mit den Reformversuchen wieder vorbei. Und Walter Ulbricht konnte nun – mit ausdrücklicher Billigung Chruschtschows - in aller Ruhe wieder gegen "Revisionisten" und sonstige "Abweichler" vorgehen.
1961: Der Name Stalins wird getilgt
Im Oktober 1961 fand in Moskau der 22. Parteitag der KPdSU statt. Parteichef Chruschtschow hatte das Thema "Entstalinisierung" erneut auf die Tagesordnung setzen lassen, vor allem deshalb, weil er innerparteiliche Gegner schwächen wollte. Die Delegierten verabschiedeten unter anderem einen Beschluss, wonach Stalins Name aus der Öffentlichkeit zu tilgen sei und der Leichnam des Diktators aus dem Mausoleum an der Kremlmauer, wo er noch immer neben Staatsgründer Lenin ruhte, entfernt werden sollte.
SED-Chef Ulbricht, der sich als Gast des Parteitags in Moskau aufhielt, schrieb in einem Brief an die Genossen zu Hause, dass in der Berichterstattung über den Parteitag der Bruderpartei darauf abgezielt werden müsse, dass sich die SED eng an der Seite der sowjetischen Genossen befände. Als Ulbricht in die DDR zurückkehrte, sagte er in einer kurzen Ansprache den kryptischen Satz: "Es waren inhaltsreiche und erregende Tage, die wohl niemand von uns jemals vergessen wird."
Stalinstadt wird Eisenhüttenstadt
Zwei Wochen später wurde der Beschluss der KPdSU, wonach Stalin aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden habe, auch in der DDR umgesetzt. Tausende Plätze und Straßen in der Republik wurden eilig umbenannt. In einer Nacht-und Nebel-Aktion wurde etwa das fast fünf Meter hohe Stalin-Denkmal auf der nach dem Diktator benannten Pracht-Allee in Berlin vom Sockel gehoben. Zahlreiche Volkspolizisten bewachten die Aktion, denn man fürchtete Proteste. Doch es blieb alles ruhig, niemand schien der Abtransport Stalins zu stören. Die Allee selbst hieß ab dem 14. November 1961 Karl-Marx-Allee. An diesem Tag wurden auch die Ortseingangsschilder von "Stalinstadt an der Oder" durch "Eisenhüttenstadt" ersetzt …
Stalins Verbrechen weitestgehend tabuisiert
Stalins Verbrechen wurden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in der DDR zwar nicht mehr geleugnet, blieben praktisch aber bis weit in die 1980er Jahre hinein ein Tabu; die geheimen Zusätze im sogenannten "Hitler-Stalin-Pakt" - selbst in der UdSSR unter Gorbatschow nicht mehr offiziell geleugnet - galten gar bis zum Ende der DDR als "antisowjetische Propaganda". "Noch immer kennen wir die Wahrheit nur andeutungsweise. Noch werden Stalin und der Stalinismus von unserer Geschichtsschreibung höchst unvollständig erfasst", beklagte Christoph Hein im Oktober 1989 in seiner immer noch als mutig angesehenen Rede auf dem Schriftstellerkongress der DDR in Berlin. "Stalin brach Hitler das Genick, das ist eine unbestreitbare Wahrheit, die keiner vergessen soll. Aber Stalin brachte auch seine Genossen und Millionen seiner Landsleute um. Auch das ist eine unbestreitbare Wahrheit. Und wer so verschiedene Wahrheiten nicht erträgt und die eine mit der anderen zu verdecken und auszulöschen sucht, fälscht die Geschichte."
XX. Parteitag der KPdSU vom 14.-25. Februar 1956 Dieser Parteitag war der erste Parteitag nach dem Tod Stalins drei Jahre zuvor. Nachfolger Nikita Chruschtschow macht am letzten Tag in einer fünfstündigen Geheimrede hinter verschlossenen Türen einige von Stalins Verbrechen bekannt und verurteilt sie. Am 5. März entscheidet Chruschtschow, wesentliche Inhalte der Rede den Parteimitgliedern zugänglich zu machen. Sie erfahren erstmals, dass ihr Idol ein Massenmörder war. In der Sowjetunion und den sozialistischen Bruderländern wird ein Kurswechsel, die so genannte "Tauwetter-Periode", eingeleitet. Während dieser Phase der Entstalinisierung schwächt sich die Zensur merklich ab.