Flucht aus dem Gefängnis 1967: "Tunnel-Dieter" flieht aus Bautzen II
Hauptinhalt
01. Dezember 2010, 09:11 Uhr
Es soll die größte Fahndungsaktion in der DDR gewesen sein: 3.000 Polizisten jagten 1967 den Ausbrecher Dieter Hötger, genannt "Tunnel-Dieter" – der einzige, dem der Ausbruch aus "Bautzen II" gelang.
40 mal 30 mal 65 Zentimeter groß war das Loch, das Dieter Hötger in die Mauer der Sonderhaftanstalt "Bautzen II" gescharrt hatte. Mit einem gestohlenen Schraubenzieher hatte er wochenlang den Mörtel aus den Fugen gekratzt. Den Schutt und die Steine ließ er zerbröselt in der Toilette verschwinden oder versteckte sie zwischen Fenster und Arbeitstisch. Aber auch auf dem Boden seiner Materialkiste, die in Zelle 19 stand.
Ein Spind verdeckte das immer größer werdende Loch vor den Blicken der Wärter. Und bei allen Kontrollen, die in seiner Zelle stattfanden, wurde dieser Spind nie richtig von der Wand abgerückt, sonst wäre sein Fluchtversuch aufgeflogen. Man suchte meist nur oberflächlich nach Kassibern, Papieren oder ähnlichem. Außerdem hatte man den Fehler gemacht, ihn in eine Zelle zu verlegen, die an der Außenwand des Gefängnisses lag. Denn er hatte schon einmal einen Fluchtversuch unternommen, war erst auf der Gefängnismauer entdeckt worden. Am 28.November 1967 zwängte er sich durch das Loch, ließ sich auf den Weg fallen, der am Zuchthaus vorbei führte, versteckte sich und floh in der Morgendämmerung aus der Stadt.
Fluchthelfer mit Spitznamen "Tunnel-Dieter"
Schon sein Straftatbestand hatte mit Flucht und Ausbruch zu tun. Denn "Tunnel-Dieter" aus Westberlin war verliebt in eine Ostberlinerin. Und begann nach dem Mauerbau, von Westberlin aus einen Flucht-Tunnel für sie und andere zu graben. Einer seiner Mithelfer allerdings war ein Maulwurf im doppelten Wortsinn – ein Zuträger der Stasi. Und so empfing eine Stasi-Sondereinheit die Fluchthelfer aus Westberlin beim Tunneldurchstich in einem Ostberliner Haus mit einer Gewehrsalve. Ein Freund von Dieter Hötger kam dabei ums Leben, er selbst wurde durch einen Lungensteckschuss schwer verletzt.
In der Sonderhaftanstalt
Nach der Verurteilung ("9 Jahre Zuchthaus wegen staatsgefährdender Gewaltakte und Verleitung zur Republikflucht") kam Hötger in den berüchtigten Stasi-Knast "Bautzen II", zunächst auf eine Vier-Mann-Zelle, Gefangenen-Nummer 392. Wie die meisten Häftlinge musste Hötger arbeiten: Elektrospulen wickeln. Da er wegen der Folgen des Lungenschusses nicht an den schweren Maschinen im Arbeitskeller eingesetzt werden konnte, richtete man ihm eine Arbeitszelle ein, dummerweise an der Außenmauer der Anstalt. Aus dieser Zelle gelang ihm die Flucht.
Fahndung wie im Wilden Westen
1.000 Mark Belohnung setzten die Behörden für Hinweise auf den Flüchtigen aus. In Bautzen und Umgebung wurden Fahndungsplakate aufgehängt - absolut ungewöhnlich für die DDR. Und sogar in Leipzig war der Steckbrief zu lesen:
Die Bevölkerung wird gebeten, die Volkspolizei bei der Fahndung nach dem Flüchtigen aktiv zu unterstützen und Versteckmöglichkeiten wie Keller, Böden, Stallungen, Schuppen, Garagen, Gartenanlagen und ähnliches zu überprüfen sowie Diebstähle von Bekleidungsstücken, Lebensmitteln oder Fahrzeugen und Wahrnehmungen, die auf den Aufenthalt oder die Bewegung des Flüchtigen schließen lassen, sofort der Volkspolizei mitzuteilen...
Das Ende der Flucht
Hötger floh in Anstaltskleidung durch Wälder und Felder, stahl in einem Betrieb ein paar Sachen, um unauffälliger auszusehen, brach in Werkskantinen ein, um sich mit Essen zu versorgen. Aus dem Gebüsch heraus sah er Hundertschaften der Polizei, die auf den Landstraßen marschierten – auf dem Weg zur Fahndung. Tagsüber hielt er sich versteckt, nur nachts machte er sich auf den Weg. Allerdings in die falsche Richtung. Denn eigentlich wollte er zur tschechischen Grenze, tatsächlich näherte er sich aber der polnischen.
Am 6. Dezember schließlich wurde Dieter Hötger in der Gemeinde Kleinsaubernitz auf der Straße Bautzen-Niesky gefangen genommen. Fast zwei Jahre dauerten die Vernehmungen. Die Stasi wollte nicht glauben, dass Hötger ohne Fluchthelfer seinen Plan ausgeführt hatte. Bei einem erneuten Prozess wurde er zu acht weiteren Jahren Zuchthaus verurteilt. Hötgers Glück: Im September 1972 wurde er von der Bundesregierung freigekauft. Seinen Lebensunterhalt verdiente er danach als Bote in einer Baufirma in Westberlin.