Riskante Lage in Prag Die Botschaft von Prag (2/4): Das Drama verschärft sich
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14. Dezember 2021, 17:05 Uhr
Waren es anfangs nur ein paar wenige DDR-Bürger, die ihre Ausreise über die Botschaften beschleunigen wollten, so wurden es im Sommer 1989 Hunderte und Tausende. Im September wurde die Lage riskant - vor allem in Prag.
Am 8. August 1989 wurde die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin geschlossen. Die Bundesregierung stellte ihre Zahlungen zum Freikauf der Botschaftsflüchtlinge ein. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters appellierte an die DDR-Bürger, nicht mehr in den Botschaften Zuflucht zu suchen.
Ein Brief des Kanzlers
Am 14. August schloss das Auswärtige Amt die Botschaft in Budapest. Am selben Tag schrieb Bundeskanzler Helmut Kohl einen Brief an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, der zu diesem Zeitpunkt wegen einer Gallenoperation im Krankenhaus lag. "Auf die Dauer" schrieb Kohl, "sind Belastungen unserer Beziehungen mit negativen Auswirkungen in allen Bereichen nicht auszuschließen." Kohl schlug geheime Gespräche vor. Honecker stimmte zu. Zwei Tage später wurde verhandelt, ergebnislos. Die politische Führung der DDR weigerte sich weiterhin die Ursachen der Fluchtbewegung im eigenen Land zu suchen.
Bleiben oder gehen?
In der Bevölkerung der DDR schwand die Hoffnung auf Perestroika und Glasnost. Resignation breitete sich aus. Die Perspektivlosigkeit stellte vor allem junge Leute vor eine Entscheidung: Bleiben oder Gehen? Die Unzufriedenheit mit dem System DDR – für Botschafter Huber in Prag war sie ablesbar an der Anzahl der Botschaftsflüchtlinge:
Die große Welle setzte erst im August '89 an. Ich kann das ziemlich genau datieren - am 17.08. waren plötzlich etwa 70 Flüchtlinge in der Botschaft, die Zahl steigerte sich bis zum 19. auf 90 und am 21. August hatten wir bereits 123 Flüchtlinge. Die meisten kamen direkt aus der DDR, weil sie fürchteten, dass dies die letzte Möglichkeit sei, überhaupt noch auszureisen, bevor man nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag die Grenzen vollkommen dicht machen würde.
Botschaft wegen Überfüllung geschlossen
Am 22. August musste Hermann Huber die Botschaft wegen Überfüllung für den Publikumsverkehr schließen. Jetzt waren drei Anlaufstellen der Bundesrepublik in den sozialistischen Ländern geschlossen. Der Damm brach in Budapest. Mit Reisedokumenten des Internationalen Roten Kreuzes wurden alle 108 Budapester Besetzer am 24. August direkt aus Ungarn nach Österreich ausgeflogen. In Prag aber weigerten sich die tschechoslowakischen Behörden, einem solchen Verfahren zuzustimmen. Und die Botschaft füllte sich mit immer mehr Fluchtwilligen. Am 12. September 1989 reiste Rechtsanwalt Professor Wolfgang Vogel zusammen mit dem Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte der DDR, Gregor Gysi, nach Prag.
Verschärfung der Gangart
Bereits vier Tage vorher, am 8. September, hatten Rechtsanwälte die 117 Besetzer der Ständigen Vertretung in Ostberlin zum Aufgeben bewegt. Nach vierwöchigem Ausharren verließen die Männer, Frauen und Kinder das Haus in der Hannoverschen Straße - ohne Zusage auf "wohlwollende Prüfung ihres Ausreiseersuchens". Vogel sicherte ihnen jedoch umfassende anwaltliche Betreuung zu. Nach diesem Beispiel sollten die 430 Flüchtlinge in Prag ebenso zur Rückkehr bewogen werden. Allerdings ließen sich in Prag 170 der Besetzer nicht auf dieses Verfahren ein. Mit welchen Mitteln die DDR vorging, dokumentiert ein Blitz-Fernschreiben des Botschafters der DDR in Prag, Herbert Ziebart, an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer, vom 21. September 1989: "Zuständige ČSSR-Organe haben auf Grundlage der Absprachen mit DDR-Partnern eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet: im Grenzbereich ČSSR/Ungarische Volksrepublik 4.500 Grenzübertritte verhindert, in der Botschaft der BRD zur Zeit 520 DDR-Bürger, Verstärkung der Streifentätigkeit vor der Botschaft der BRD in Prag."
Betten unterm Torbogen
Der Fluchtweg über die ČSSR nach Ungarn war endgültig abgeschnitten. In nur wenigen Tagen wuchs die Anzahl der Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände in Prag auf über 1.000. Im Garten des altehrwürdigen Palais reihte sich Mannschaftszelt an Mannschaftszelt. Menschen drängelten sich vor Duschen und standen stundenlang nach Essen an.
Sogar im Torbogen der Botschaft waren Betten aufgestellt, dreistöckig, vierstöckig. Bei Regen spülte das Wasser Fäkalien aus den überlasteten Chemietoiletten. Obwohl die Prager Stadtwerke tankwagenweise Wasser lieferten und täglich Berge von Müll entsorgte, verschlechterten sich die hygienischen Bedingungen. Noch immer gab es keine Anzeichen dafür, dass die DDR-Führung nachgeben würde. Eine Lösung des Konfliktes bahnte sich auf internationalem Parkett an.