Die Botschaft von Prag (4/4): Die zweite und dritte Ausreisewelle
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06. Januar 2022, 11:11 Uhr
Nachdem die Botschaftsflüchtlinge ausreisen durften, machte die DDR die Grenzen zur ČSSR dicht. Das verstärkte den innenpolitischen Druck nur noch mehr.
Die DDR-Nachrichten brachten am 01. Oktober 1989, einem Sonntag, einen Kommentar, der am Montag von den meisten Zeitungen im gleichen Wortlaut übernommen werden musste. Es war die Rede von einer "stabsmäßig vorbereiteten 'Heim-ins-Reich-Psychose', die von der BRD geschürt würde, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben."
Der Kommentar des greisen Herrschers
Wörtlich hieß es: "Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben. (...) Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat. Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen."
Den letzten Satz hatte Erich Honecker persönlich in den Kommentartext eingefügt. Dieser Satz empörte viele, die in der DDR geblieben waren. Was war das für eine Volksvertretung, die nicht einmal die Tränen zulassen wollte darüber, dass ihr das Volk davonlief? Am Montag, dem 02. Oktober, zogen in Leipzig mehr als 20.000 Menschen durch die Innenstadt. Der Widerspruch wuchs - "Wir bleiben hier" skandieren die Demonstranten und "Wir sind das Volk".
Ansturm auf die Prager Botschaft
Zeitgleich waren in Prag schon wieder hunderte Ostdeutsche angekommen. Die Botschaft füllte sich erneut und Botschafter Huber hatte keine Atempause: "Weil die zweite Welle in gewisser Weise noch vehementer war als die erste. Bei der zweiten Welle war es ja so, dass wir am zweiten Tag schon 1.600 Leute gemeldet hatten und am dritten Tag waren es 3.800 oder 4.000. Wir kamen nicht mehr mit, die Leute zu zählen, wir teilten nur noch Schlafsäcke aus, und dann musste ich auf Weisung des Auswärtigen Amtes, ich glaube am späten Nachmittag des 03. Oktober, die Pforten endgültig dichtmachen."
Die Grenze zur ČSSR ist dicht
Noch einmal wollte sich die DDR-Führung nicht vorführen lassen. Sie befahl am 03. Oktober die sofortige Schließung der Grenze zur ČSSR. Dieser Schritt löste in der DDR-Bevölkerung Empörung aus, selbst bei denen, die bislang zum Regime gehalten hatten. Der Druck im Kessel stieg. Unter den in der DDR eingeschlossenen Ausreisewilligen entstand Panik. Tausende drängten auf die Bahnhöfe von Dresden und Karl-Marx-Stadt, um auf die Züge aufzuspringen.
Die Züge rollen – und mit ihnen eine Eskalation der Gewalt
Entlang der Strecke, in Kurven und auf Brücken, versammelten sich hunderte Menschen, standen und warteten. Unbekannte rollten Benzinfässer vor einen Tunnel auf die Geleise, um so den Halt der Züge zu erzwingen. Transportpolizei, Grenztruppen und Stasi räumten mit Gewalt die Strecken und sperrten sie weiträumig ab.
Im Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, notiert Oberst Schaufuß im Protokoll der Dienstversammlung vom 05.10.'89: "Wer das erlebt hat, kann sich erstmal vorstellen, was losgeht, wenn diese feindlich negativen Kräfte in einer solchen Überzahl sind, daß sie kaum noch zu bremsen sind. (...) Auf dem Bahnhof Karl-Marx-Stadt waren es nicht mal die normalen Reisenden, die sich schützend auf die Seite der Volkspolizei geschlagen haben, sondern die haben alle gegen unsere Genossen - mit Beschimpfungen und was es so alles gab. Und wenn die Genossen nicht so rigoros gestanden hätten mit körperlicher Gewalt, mit Schlagstock bis hin zu schwerer Technik, wäre diese Situation nicht zu retten gewesen."
Keine Gewalt! - Ziviler Widerstand formiert sich
Der brutale Polizeieinsatz löste in den folgenden Tagen friedliche Protestdemonstrationen vor allem in Dresden aus. In Leipzig demonstrierten am 09. Oktober 70.000 Menschen für Pressefreiheit, freie Wahlen und Reformen. Am 18. Oktober trat Erich Honecker von seinen Ämtern zurück. Egon Krenz übernahm die Führung und sprach in seiner Antrittsrede von Erneuerung. Das Botschaftsdrama war damit noch nicht beendet. Trotz der abgeriegelten Grenze erreichten im Oktober wieder einige hundert Flüchtlinge die bundesdeutsche Mission in Prag.
Die Mauer fiel in Prag
Am 28. Oktober sah sich das neue Politbüro veranlasst, die Öffnung der ČSSR-Grenze zum 01. November bekanntzugeben. Als einen Vorschuss auf das in Aussicht gestellte neue Reisegesetz. Zugleich wurde den restlichen Botschaftsflüchtlingen die Ausreise gestattet. Diesmal ging es direkt von Prag über die tschechoslowakische Grenze nach Bayern – für Botschafter Hermann Huber der Abschluss einer Entwicklung: "Eigentlich glaube ich, dass in den letzten Tagen in Prag der Eiserne Vorhang gerissen ist. Und zwar deshalb, weil wir dann eine Gruppe von Flüchtlingen in Busse, die wir direkt in Westdeutschland bestellt hatten, in Busse verfrachten konnten und sie direkt zur tschechoslowakisch-deutschen Grenze bringen konnten. Ich bin damals selbst bis Waidhaus im eigenen Wagen mitgefahren um sicherzugehen, dass da nichts passiert. Die Busse sind unbehelligt über die Grenze gekommen, die Leute wurden nicht einzeln kontrolliert. Es war natürlich eine große Freude in Waidhaus als zum ersten Mal Leute direkt über den Übergang kommen konnten. Ich glaube wirklich, damals ist die Mauer gerissen, denn damit ist ja auch die Mauer obsolet geworden. Man brauchte in Berlin keine Mauer mehr, wenn man über Prag nach Deutschland reisen konnte."
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR aktuell | 28.09.2019 | 19:30 Uhr