Flucht in den Westen Weihnachten 1962: Wie es zwei Familien im gepanzerten Bus in den Westen schaffen wollen
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26. Dezember 2022, 05:00 Uhr
Weihnachten 1962 versuchen zwei Familien aus der Lausitz in den Westen zu fliehen. Mit einem zur Festung ausgebauten Omnibus wollen sie am Morgen des 26. Dezember die Grenzanlagen bei Drewitz/Dreilinden durchbrechen. Doch an der Grenze werden sie beschossen. Wie kann diese waghalsigen Aktion gelingen?
Für den zehnjährigen Wolfgang Weidner in Neugersdorf ist der Heilige Abend 1962 ein ziemlich trostloser Tag. Das Haus der Familie ist kein bisschen weihnachtlich geschmückt und einen Tannenbaum gibt es auch nicht. Stattdessen verpacken die Eltern Geschirr und Wäsche in Pappkartons.
Der Vater erklärt seinem Sohn: Weihnachten würden sie in diesem Jahr wegfahren, zu einer Tante nach Thüringen. Wolfgang könne so viel Spielzeug einpacken, wie er nur wolle. Aber Wolfgang würde lieber mit der Mutter Plätzchen backen und den Weihnachtsbaum schmücken. Vielleicht bei der Tante in Thüringen, vertröstet ihn der Vater. Am späten Nachmittag, als die anderen Bewohner des Ortes zur Weihnachtsmesse in die Kirche spazieren, raunt der Vater, dass sie nun losfahren müssten.
Immer wieder Hindernisse
Der Vater, Hans Weidner, ist 39 Jahre alt. Im Krieg ist er schwer verwundet worden - er hat ein Bein verloren und muss sich an Krücken fortbewegen. Gleich nach Kriegsende gründete er dennoch in seinem Heimatort Neugersdorf in der Oberlausitz ein kleines Fuhrunternehmen. Die Geschäfte gehen anfänglich gut. Doch Anfang der 1960er-Jahre beginnt man in der DDR, private Unternehmen zu verstaatlichen. Von dem Vorhaben der SED ist auch Hans Weidner betroffen: Zunächst haben ihm die staatlichen Organe sein Betriebsgelände entschädigungslos weggenommen, dann zwingen sie ihn, mit seinem Omnibus für einen Volkseigenen Betrieb in Zittau zu fahren. Honorar gibt es nur wenig. "Ich habe Tag und Nacht gearbeitet, um vorwärtszukommen", sagte er später einmal, "aber immer wieder waren Hindernisse da." Ende 1961 ist Weidner nun gar angedroht worden, dass er seine Konzession verlieren werde, wenn er sich der Verstaatlichung weiter widersetzt. Hans Weidner reicht es. Er plant, sobald als möglich in den Westen zu fliehen.
Im Sommer 1962 fasst Hans Weidner einen Entschluss: Mit einem Bus will er die Grenzanlagen zu Westberlin in Drewitz/Dreilinden bei Potsdam durchbrechen. Gemeinsam mit seinem Angestellten, den er in das Vorhaben eingeweiht hat, beginnt er in aller Heimlichkeit, einen 60-sitzigen Omnibus der Marke "Vomag" (Baujahr 1941) zu einer rollenden Festung umzubauen. Die beiden Männer schrauben Stahlplatten und Holzbohlen an die Innenwände des Busses; sie panzern die Räder mit Stahlplatten und schweißen einen Schneepflug an den Bus, der als Rammsporn dienen soll. Zuletzt stapeln sie Dutzende Säcke mit Kohlen rund um die Fahrerkabine. Sie sollen als zusätzlicher Kugelfang dienen.
Abschied von der Heimat
Sohn Wolfgang erkennt den alten Familienbus nicht wieder, als er am Nachmittag des Heiligen Abends in die Garage kommt. Er fragt seinen Vater, was das alles bedeuten solle, aber der winkt nur ab. Wolfgangs Verwunderung wird noch größer, als wenig später der Angestellte seines Vaters samt Frau und Kindern erscheint. Man werde sie ein Stück des Weges mitnehmen, wiegelt der Vater ab. In Wirklichkeit wollen auch sie in den Westen. Erst später, kurz vor der Grenze, wird Vater Hans Weidner die Kinder in den Fluchtplan einweihen.
Im Panzerbus in den Westen
Anderthalb Tage brauchen die beiden Familien mit ihrem gepanzerten Bus bis Potsdam. Um kein Aufsehen zu erregen, können sie nur nachts und auf abseits gelegenen Straßen fahren. Einmal streikt auch der Motor - bei den eisigen Temperaturen friert der Kühler ein. Die beiden Männer müssen bei minus 20 Grad und heftigem Schneesturm stundenlang an dem Motor herumschrauben, ehe sich der Bus wieder in Bewegung setzt.
Am zweiten Weihnachtstag, früh um 5.30 Uhr, haben die Flüchtlinge ihr Ziel erreicht - den Grenzübergang Drewitz/Dreilinden. Es ist kein Verkehr auf der Autobahn. Es ist stockdunkel und still. Hans Weidners Angestellter gibt Vollgas und der Omnibus fährt auf die Grenzbefestigungen zu. Ohne Mühe durchbricht das gepanzerte Ungetüm unter dem MG-Feuer der DDR-Grenzsoldaten drei Schlagbäume aus Stahl, ehe es Hunderte Meter weiter auf Westberliner Gebiet zum Stehen kommt. Die vier Erwachsenen und vier Kinder, die sich im Fahrerhaus verschanzt hatten, sind unverletzt. Acht Einschüsse werden später am Bus gezählt.
Kein "goldener Westen"?
Die beiden Familien werden zunächst im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde einquartiert. Sie sind nun im "goldenen Westen". Hans Weidner muss Interviews für Illustrierte und das Fernsehen geben. Die verwegene Flucht hat in Westberlin für Furore gesorgt und den kleinen Fuhrunternehmer aus dem Osten zu einem Helden für einen Tag gemacht. Sein Sohn Wolfgang staunt bei einem ersten Spaziergang durch Westberlin über die prallen Auslagen der Geschäfte und das große Angebot an Spielwaren. Doch glücklich ist er zunächst keineswegs: Er vermisst die geliebten Großeltern, seine Freunde und die hügelige Landschaft seiner Heimat.
Der Vater scheitert
Hans Weidner wird später in Westberlin mehrere Fuhrunternehmen gründen. Doch er hat kein Glück - er scheitert immer wieder. Sein Sohn Wolfgang hingegen schafft es - aus ihm wird ein erfolgreicher Unternehmer. Nach dem Ende der DDR siedelt er sich in einer Kleinstadt im Harz an.
Dieser Artikel erschien erstmals im Dezember 2017.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Lebensretter | 30. Januar 2020 | 20:15 Uhr