Historische Geste 7. Dezember 1970: Der Kniefall von Warschau
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07. Dezember 2020, 12:29 Uhr
Eine Geste war es, nicht mehr. Aber mit großer Wirkung. Aus dem Moment heraus, ungeplant. Eine halbe Minute, die weltweit beachtet wurde. In der Bundesrepublik spaltete sie die Gesellschaft, in der DDR wurde sie totgeschwiegen. Jahrzehnte später hat Brandts Kniefall vor dem Ghetto-Denkmal selbst ein Denkmal bekommen.
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Warschau, 7. Dezember 1970. Bundeskanzler Willy Brandt legt einen Kranz am Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto nieder. Er zupft die schwarz-rot-goldene Schleife zurecht, tritt vier Schritte zurück auf dem nassen Granit. Er verharrt in der protokollarischen Pose des Kranz niederlegenden Staatsmanns. Plötzlich fällt er auf die Knie, ungestützt, die Hände übereinander, den Kopf nach unten geneigt. Eine halbe Minute bleibt er in dieser Haltung, die an einen Büßer erinnert. Der Ruck, mit dem Willy Brandt wieder aufsteht, wirft ihn fast um. Auch jetzt nimmt er die Hände nicht zu Hilfe, kommt nicht langsam in Etappen auf die Füße, ein Bein nach dem anderen, sondern mit einem mächtigen Ruck, der so heftig ist, als wären da Fesseln zu zerreißen.
Alle, die mit ihm zum Denkmal gekommen waren, verstummten, so unerwartet, so unerhört war diese Geste. Fotos und Filmaufnahmen von diesem Kniefall gingen um die Welt. Eine Bildikone war entstanden.
Brandt entschuldigt sich symbolisch im Namen der Nation
Niemand ist darauf gefasst, niemand hat vorher davon gewusst. Selbst Brandts engste Vertraute trifft der Anblick wie ein Schock. Egon Bahr, Freund und Staatssekretär des Kanzlers, der in unmittelbarer Nähe zum Geschehen steht, murmelt: "Mein Gott, was dieser Mann alles tun muss."
Es ist ein Bild, das um die Welt geht. Es ist ein Bild, das Geschichte schreibt. Brandt kniet nicht um seinetwillen. Er hatte seit der Machtergreifung 1933 die Nationalsozialisten bekämpft und war sogar ins Exil gegangen. Er bekennt sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung nicht für sich, sondern für Deutschland.
Unter der Last der jüngsten Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen. So gedachte ich Millionen Ermordeter.
Reaktionen: Beschimpfung als "Vaterlandsverräter" und Friedensnobelpreis
Das Ausland ist überrascht. Brandt steht für ein Deutschland, das man so bisher nicht kannte. International wird der Kniefall als die Geste zur Versöhnungsbereitschaft gewertet und trägt zum Ansehen des Kanzlers Brandt und dem der Bundesrepublik bei. Das Time-Magazin erklärt Willy Brandt zum "Mann des Jahres" 1970, ein Jahr später erhält der westdeutsche Kanzler den Friedensnobelpreis. Umso erstaunlicher erscheint es heute, dass die westdeutsche Gesellschaft damals wegen des Kniefalls gespalten war.
Während SPD und FDP als Regierungsparteien hinter der Ostpolitik standen, kam von der CDU teils vehemente Kritik. Besonders kritisch waren aber die Heimatvertriebenen eingestellt, die ihre ohnehin schon relativ vage Hoffnung auf Rückkehr in die ehemals deutschen Ostgebiete nun aufgeben mussten.
Das Institut für Demoskopie in Allensbach ermittelt im Dezember 1970 in einer Blitzumfrage, dass 41 Prozent der befragten Deutschen das Verhalten Brandts am Ghetto-Mahnmal für angemessen halten, 48 Prozent dagegen bezeichnen es als übertrieben. Der Riss geht im wahrsten Sinne mitten durch die Gesellschaft. Den Konservativen in Westdeutschland ist die Politik Brandts ein Dorn im Auge, der Kanzler gilt manchen gar als "Vaterlandsverräter". Die Gespräche mit dem ideologischen Feind und der Verlust der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze fachen die Emotionen an, gegen Willy Brandt werden Morddrohungen ausgesprochen. Demonstranten fordern auf ihren Transparenten: "Hängt die Verräter." Die CDU/CSU-Opposition mobilisiert ihre Anhängerschaft gegen Brandt und will ihn stürzen.
DDR-Presse Verschweigt Brandts Kniefall
Auch die SED-Führung sieht den Kniefall negativ. Er wird daher in den offiziellen DDR-Medien totgeschwiegen. Die Zeitung "Neues Deutschland", das Parteiorgan der SED, erwähnt am 8. Dezember 1970 den Kniefall mit keiner Silbe. Die karge Überschrift lautet: "Vertrag VR Polen-BRD unterzeichnet". Kein Kniefall-Foto weit und breit. Stattdessen findet sich auf der Seite die dürftige Beschreibung: "In den frühen Vormittagsstunden hatte Willy Brandt, begleitet von Walter Scheel und anderen Mitgliedern der Delegation der BRD, Warschau besichtigt und am 'Grabmal des unbekannten Soldaten' sowie am Denkmal der Ghettohelden Kränze niedergelegt."
Das Ignorieren des Kniefalls hatte kühle Methode: verschweigen, weil unbequem, ja gefährlich. Brandts Kniefall war eigentlich ein Triumph, für ihn, für Deutschland, für den Westen. In der DDR-Führung hatte man das schnell erkannt.
Polens Regierung schürt weiter antideutsche Stimmungen
Auch in Polen wird die Demutsgeste von Willy Brandt nicht an die große Glocke gehängt. Die kommunistische Führung des Landes feiert den Staatsbesuch des Bundeskanzlers zwar als außenpolitischen Triumph, stellt aber den Warschauer Vertrag in den Vordergrund, der am gleichen Tag unterzeichnet wird. Darin erkennt die Bundesrepublik Polens Westgrenze entlang der Oder und Neiße an und verzichtet indirekt auf Deutschlands ehemalige Ostprovinzen Pommern, Schlesien und Ostpreußen.
Die polnische Regierung versuchte, den Warschauer Vertrag als ihren Erfolg zu verkaufen, immerhin bot er der Bevölkerung in den Westgebieten die weitgehende Gewissheit, dass ihnen ihre neue Heimat nicht mehr genommen werden würde. Der Kniefall wiederum wurde in Polen größtenteils verschwiegen - die Geste Brandts vor dem Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos passte nicht zur Politik Warschaus.
Die kommunistische Staatsführung will trotz der Annäherung die antideutschen Stimmungen, die es in der Gesellschaft infolge des Zweiten Weltkriegs gibt, erhalten - gemäß einer alten politischen Weisheit, dass ein äußerer Feind den Regierenden hilft, ihre Macht zu festigen und die Bevölkerung hinter sich zu scharen. Das Bild eines knieenden Bundeskanzlers wäre dabei hinderlich. Das Kalkül geht aber nicht auf - nur eine Woche später bricht in Polen ein Aufstand gegen eine drastische Erhöhung der Einzelhandelspreise aus.
Symbol einer weitsichtigen Politik
Willy Brandts große Geste erhält in Polen erst nach 1989 einen festen Platz als Bildikone im Gedächtnis der Nation. Obwohl der Kanzler damals im Inland für den Kniefall und für seine gesamte Ostpolitik angefeindet wurde, war sie in Wahrheit ein Meilenstein im Prozess der deutsch-polnischen Aussöhnung.
Willy Brandt hat uns gezeigt, dass mutiges, konsequentes politisches Handeln politische Früchte trägt und Brücken bauen kann. Dabei sind Kompromisse unausweichlich, die oft erst viele Jahre später als kluge und weitsichtige Politik anerkannt werden. Brandt hat uns aber auch gezeigt, welche Wirkung spontanes Handeln haben kann - sein Kniefall ist bis heute eine der großen politischen Gesten des 20. Jahrhunderts.
Brandts Kniefall bekommt eigenes Denkmal
Die Demutsgeste des Kanzlers, mit gesenktem Kopf auf nassen Bettonplatten knieend, ist auch nach Jahren so bewegend, dass sie schließlich ein eigenes Denkmal bekommt: Eine schlichte, drei Meter hohe Wand aus roten Ziegelsteinen mit einem Bronzerelief unweit des Ghetto-Denkmals wurde im Dezember 2000 von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Polens Ministerpräsident Jerzy Buzek enthüllt. Der kleine Park, in dem sich das Ghetto-Denkmal, das Kniefall-Gedenkrelief und seit 2013 das Museum der polnischen Juden POLIN befinden, wurde nach Willy Brandt benannt.
In Deutschland wurde Brandts historische Versöhnungsgeste mit einer eigenen Oper gewürdigt: "Kniefall in Warschau", 1997 in Dortmund uraufgeführt. Zum diesjährigen 50. Jahrestag des Kniefallls von Warschau sind eine 2-Euro-Sondermünze und eine Sonderbriefmarke der Deutschen Post mit dem knieenden Bundeskanzler erschienen.
Das Deutsche Polen-Institut in Darmastadt organisiert aus diesem Anlass eine virtuelle Ausstellung mit dem Titel "Vom Vertrag zum Vertragen", die nacheichnet, wie sich die deutsch-polnischen Beziehungen seit dem Kniefall von Willy Brandt entwickelten.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Kniefall des Kanzlers | 06. Dezember 2020 | 22:55 Uhr