"Ständige Vertretung" in der DDR "Im Grunde waren es natürlich Botschaften"
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14. Dezember 2021, 14:01 Uhr
Am 21.12.1972 wurde der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterzeichnet. In ihm war auch die Einrichtung von "Ständigen Vertretungen" vereinbart worden. 1974 nahmen sie ihren Betrieb auf.
Egon Bahr war der Verhandlungsführer der Bundesrepublik. Er gilt als der Architekt der Entspannungspolitik von Bundeskanzler Willy Brandt. "Wandel durch Annäherung" hieß Bahrs Motto. Karl Seidel war der Leiter der Abteilung BRD beim ZK der SED und nahm an allen Verhandlungen zum "Grundlagenvertrag" teil. DAMALS IM OSTEN hat die beiden Politiker getroffen und ihnen bei den Recherchen für zwei Hörfunk-Feature die gleichen Fragen zum Grundlagenvertrag gestellt. Die Antworten der beiden Diplomaten haben wir im folgenden Gespräch gegenübergestellt.
Welche Erinnerungen haben Sie an die Verhandlungen zum "Grundlagenvertrag"?
Karl Seidel: Mich hat dieser Verhandlungsmarathon vor allem gesundheitlich mitgenommen, ich habe mir einen Herzknacks geholt. Zwischen dem Verhandlungsbeginn 1971 und der Unterzeichnung des Vertrages 1972 hatte es insgesamt 75 Verhandlungsrunden gegeben, die immer bis tief in die Nacht gegangen waren.
Egon Bahr: Die Verhandlungen mit der DDR-Delegation begannen bisschen knirschend, weil der DDR-Chefunterhändler Michael Kohl erkennbar Minderwertigkeitskomplexe hatte. Ich hatte schon mit Breschnew und Gromyko gesprochen, mit Nixon und Kissinger. Er nicht. Und ich bemerkte, als er zum ersten Mal im Kanzleramt war und eine Horde von Journalisten sah, dass er Schweißperlen auf der Stirn hatte. Und er fragte mich: "Muss ich jetzt antworten? Da muss ich mich noch mal zurückziehen!" Da war er zum ersten Mal im Leben in der Situation geraten, in der er entscheiden musste, was er sagt und was er nicht sagt. Aber das hat sich dann gegeben, er hat Sicherheit gewonnen und ich muss sagen, wir haben auch persönliches Vertrauen gewonnen, weil niemand versucht hat, den andern aufs Kreuz zu legen. Und wir haben dann im Bewusstsein, dass diese deutsch-deutschen Verhandlungen eine Einmaligkeit im Leben aller daran Beteiligten waren, ein großes Vertrauensverhältnis entwickelt.
Karl Seidel: Egon Bahr war natürlich der eigentliche Konstrukteur der Ostpolitik. Und er konnte jetzt seine eigenen Ideen umsetzen. Er musste seinem Bundeskanzler Brandt zwar Rechenschaft ablegen, aber der hatte ihm weitgehend freie Hand gelassen. Bei uns war das anders, wir hatten über uns Honecker, der musste zu allem Ja und Amen sagen. Das war zwar in der Regel der Fall, aber Bahr war frei in seinen Handlungen. Deswegen war er auch so souverän in seinem Auftreten, er wusste, was er wollte. Ich habe ihn immer bewundert, obwohl er unser Verhandlungsgegner war.
Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben - und das ist der Fortschritt.
Wo lagen die größten Probleme bei den Verhandlungen?
Karl Seidel: Es ging ja schon los mit der Frage: Was wollen wir eigentlich vereinbaren? Bis wir darauf kamen: Wir machen einen Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen. Ein Knackpunkt waren die "Ständigen Vertretungen". Die wollten wir natürlich nicht, wir wollten ordentliche Botschaften. Aber Bahr sagte: "Wenn Ihr den 'Ständigen Vertretungen' nicht zustimmt, gibt's den Grundlagenvertrag nicht!" Notgedrungen mussten wir also den "Ständigen Vertretungen" zustimmen, aber es blieb uns nichts anderes übrig. Bahr wollte auch um jeden Preis den Begriff der "Nation" im Vertrag drin haben, auch darum haben wir lange gefeilscht. Er ist dann auch aufgenommen worden. Erst hinterher haben wir erfahren, dass Herbert Wehner gesagt hatte: "Daran soll der Vertrag nicht scheitern." Aber das wussten wir damals nicht. Bahr sagte kategorisch: "Wenn das nicht reinkommt, schließe ich den Vertrag nicht ab."
Egon Bahr: Die Frage der "Nation" war das Problem, das bei den Verhandlungen über den Grundlagenvertrag bis zum Schluss offen geblieben ist. Die DDR wollte die Vokabel "Nation" auf keinen Fall im Grundlagenvertrag haben. Ich wollte sie auf jeden Fall drin haben. Und das war wirklich bis zum letzten Moment umstritten. Ich hatte nach einer Besprechung in Bonn im Kreis der Koalition keine klare Weisung diesbezüglich bekommen. Wehner hatte gesagt, daran darf es nicht scheitern. Und danach hatte sich keiner mehr geäußert. Und so fuhr ich dann nach Ostberlin und habe es auf meine Kappe genommen zu sagen: "Wenn wir nicht einen Bezug zur deutschen Frage nehmen, kann ich nicht abschließen." Wir haben dann die Form gefunden, dass es unter anderen die Frage der Nation gibt, über die wir verschiedener Auffassung sind. Aber damit stand sie im "Grundlagenvertrag" drin.
Schaltete sich Erich Honecker in die Verhandlungen ein?
Egon Bahr: Wirklich wichtige Fragen mussten mit Honecker besprochen werden. Ich hatte Herbert Wehner nach einer Beurteilung Honeckers gefragt, weil er ihn kannte. Und Wehner hatte gesagt: "Der hat kein Blut an den Händen." Und das war für mich eine Orientierung. In der Tat war Honecker im Laufe der Zeit immer vertrauter mit allen Einzelheiten, und man konnte sich darauf verlassen, wenn man mit ihm was vereinbart hatte, das passierte dann auch. Zum Teil genoss er es auch zu demonstrieren: Was schert mich das dumme Geschwätz meiner Untergebenen, ich entscheide hier!
Karl Seidel: Honecker hatte Bahr einmal empfangen zu einer Art Geheimtreffen, wo Honecker Bahr einen ganzen Sack voller Geschenke mitgegeben hatte. Fragen, über die wir lange gekämpft hatten, gingen dort mit einem Federstrich übern Tisch. Zum Beispiel das Problem mit der Nation, da hat Honecker zugestimmt, dass ein Bezug darauf genommen wird. Oder die "Ständigen Vertretungen" wurden Bahr von Honecker geschenkt. Mit einer Handbewegung: Na gut, dann machen wir eben "Ständige Vertretungen". Waren alles Punkte, über die wir lange gestritten hatten. Aber dann ging’s ruckzuck.
Was war nach Abschluss des Grundlagenvertrages erreicht?
Karl Seidel: Auf dem Grundlagenvertrag baute alles auf. Im Grunde war es der Ausgangspunkt für die Normalisierung der deutsch-deutschen Beziehungen.
Egon Bahr: Bei der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages habe ich in der Pressekonferenz hinterher gesagt: "Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben, das ist der Fortschritt."
Vereinbart wurde die Einrichtung von "Ständigen Vertretungen". War das nur eine andere Bezeichnung für Botschaften?
Egon Bahr: Im Prinzip handelte es sich bei dem "Ständigen Vertreter" tatsächlich um die Tätigkeit eines Botschafters, den man so aber nicht nennen durfte und auch nicht wollte. Und so war es dann eben der "Leiter der Ständigen Vertretung" im Range eines Staatssekretärs.
Karl Seidel: Im Grunde waren es natürlich Botschaften. Intern hatte die BRD das auch zugegeben. Aber es durften eben keine Botschaften sein, denn das hätte "diplomatische Beziehungen" bedeutet, und damit die völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Und das wollten sie nicht. Also blieb es bei dieser Bezeichnung – "Ständige Vertretungen".
Für die DDR war die "Ständige Vertretung der Bundesrepublik" in Ostberlin nicht immer unproblematisch …
Karl Seidel: Eigentlich gab es generell Schwierigkeiten mit den westlichen Botschaften. Die wurden ja auch von bestimmten Organen sehr sorgfältig beobachtet. Manche behaupten, wir hätten sie sogar abgehört. Ob die "Ständige Vertretung" abgehört wurde, weiß ich nicht. Der Ständige Vertreter Günter Gaus meinte: Nein, sie wurde nicht abgehört. Wenn ich zu Vier-Augen-Gespräche in der "Ständigen Vertretung" war, redete man natürlich offener als bei offiziellen Anlässen. Und ich dachte manchmal: Wird das gut gehen? Ich bekam aber nie eine Reaktion von unseren Sicherheitsorganen. Entweder die Zuständigen dachten, ich handle im Auftrag Honeckers oder die "Ständige Vertretung" wurde tatsächlich nicht abgehört.
Die "Ständige Vertretung der Bundesrepublik" in Ostberlin geriet auch wegen der sogenannten Botschaftsbesetzungen, bei denen DDR-Bürger ihre Ausreise erzwingen wollten, in die Schlagzeilen …
Karl Seidel: Das ging 1977 los, als ein Ehepaar mit Kind die "Ständige Vertretung" besetzt hatte ... Das waren natürlich immer große Probleme für uns. Letztlich ließen wir die Botschaftsbesetzer immer ausreisen. Was hätten wir auch machen sollen? Sie in der "Vertretung" schmoren lassen? Es wurde zähneknirschend entschieden: Wir lassen sie ausreisen. So war eben die Lage. Nicht zuletzt auch durch unsere Schuld, das ist meine Meinung heute.
Quellen
"Der Ständige Vertreter. Der Politiker und Diplomat Günter Gaus". Feature, MDR 2004.
"Wandel durch Annäherung. Der Diplomat Egon Bahr". Feature, MDR 2007.
Der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag von 1972 Es war bis zum Einigungsvertrag 1990 der wichtigste Staatsvertrag zwischen den beiden deutschen Ländern. Laut dieses Vertrages wurden gutnachbarliche Beziehungen angestrebt, beide Staaten erkannten die UN-Charta an und bekräftigten ihre gegenseitige Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Für die DDR bedeutete dieser Vertrag die Anerkennung ihrer Souveränität und ihrer Grenzen. Ungeklärt blieb allerdings die Frage der Staatsbürgerschaft: Die BRD ging weiterhin nicht von zwei, sondern von einer deutschen Staatsbürgerschaft aus.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch in "Aktuell" 20.08.2015 | 19:30 Uhr