Eine Polit-Posse im Kalten Krieg Auf dem Weg zum Mauerbau: Ulbrichts provokanter Brief an Adenauer
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06. Dezember 2021, 12:50 Uhr
Es herrscht Eiszeit zwischen den beiden deutschen Staaten: Anfang 1960 gibt es zwischen der Bundesrepublik und der DDR keine diplomatischen Beziehungen. Konrad Adenauer und Walter Ulbricht – die beiden Regierungschefs – sprechen nicht miteinander. Also schickt Ulbricht einen Brief – den Adenauer ungeöffnet zurückgehen lässt.
1960 ist das 16. Jahr nach Kriegsende. Die Spaltung Deutschlands ist deutlich spürbar. Die beiden Regierungschefs sprechen nicht miteinander. Walter Ulbricht schickt daher am 23. Januar 1960 einen ausreichend frankierten Brief an Konrad Adenauer - wobei weder Anrede noch Grußformel im Brief zu finden sind.
Ulbricht ist nicht überzeugt von Adenauers Politik
Der sich abzeichnende Umschwung vom Kalten Krieg zur friedlichen Koexistenz, so schreibt Ulbricht, würde ihn veranlassen, einen Brief an Adenauer zu schreiben. Er, Ulbricht, sei überhaupt nicht überzeugt von Adenauers Politik. "Seitdem die führenden politischen Kräfte Westdeutschlands unter Ihrer Führung die Separatwährung schufen, den Westzonenstaat gründeten und zur Aufrüstung übergingen, ziehen sich die Wolken eines nationalen Unglücks über Deutschland zusammen." Er, Ulbricht, habe schon 1950 die Bildung eines gesamtdeutschen Rates und die Vorbereitung eines Friedensvertrags vorgeschlagen, da es keinen anderen Weg zur Wiedervereinigung gebe. Allerdings hätte Adenauer die freien und demokratischen Wahlen abgelehnt, da er wohl glaubte, die Annexion der DDR erzwingen zu können, schreibt Ulbricht weiter.
Auf unsere Vorschläge zur friedlichen Lösung der deutschen Frage haben Sie mit einem Staatsstreich geantwortet, indem Sie eigenmächtig die Pariser Verträge unterzeichneten, Westdeutschland der NATO angliederten und dadurch Deutschland zerrissen haben.
Adenauer will Ulbrichts Brief nicht lesen
Konrad Adenauer lässt den Brief ungeöffnet zurückgehen. Es betrachtet schon die Tatsache des Schreibens als Provokation. Daher präsentiert Ulbricht den Inhalt auf einer Pressekonferenz. Die Tageszeitungen in Ost und West drucken ihn ab. Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der KPD, Max Reimann, erklärte über den Deutschen Freiheitssender 904 zum Brief Walter Ulbrichts an Adenauer, das Schreiben zeuge "von der großen nationalen Verantwortung eines deutschen Politikers, der als Sohn der deutschen Arbeiterklasse immer seine ganze Kraft in den Dienst der Sache des Friedens, der Demokratie und des gesellschaftlichen Fortschritts stellt". Denn Ulbricht bietet eine Volksabstimmung in beiden Teilen Deutschlands an: über Abrüstung, über einen Friedensvertrag und über eine Konföderation zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Doch dazu kommt es nicht. Stattdessen wird in Westdeutschland eine Debatte über einen notwendigen Dialog mit der DDR gestartet.
Rüstungswettlauf mitten im Kalten Krieg
Doch die Gräben zwischen Ost und West werden immer größer. Im Februar 1960 übernimmt Ulbricht persönlich den Oberbefehl über die "Nationale Volksarmee" der DDR. Im selben Monat, am 13. Februar, wird in der Sahara durch die Franzosen eine Atombombe probegezündet. Die Antwort Moskaus: In großen Militärparaden werden Raketen und Atomwaffen auf dem Roten Platz vorgeführt. In Genf treffen sich am 15. März die "Zehn Mächte" zur Abrüstungskonferenz. Der Westen schlägt die Kontrolle des Militärs und ein Verbot von Massenvernichtungswaffen vor. Der Vertreter der Sowjetunion bezeichnet das westliche Vorhaben als "irrational". Am 27. Juni, drei Monate nach Beginn, bricht der Ostblock die Konferenz ab.
Willy Brandt: Wandel durch Annäherung
Auch die Pariser Gipfelkonferenz im Mai 1960 scheitert. Nikita Chruschtschow greift Adenauer offen an. Dwight D. Eisenhower verlässt die französische Hauptstadt mit wenig positiven Worten. Der regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, erklärt: "Wir alle müssen noch fester zusammenrücken. Das gilt nicht nur für Berlin. Die Bedrohung der Freiheit und des Friedens kann nur gebannt werden, wenn diese Lehren der letzten Tage im ganzen freien Deutschland geachtet werden."
Doch Deutschland rückt nicht weiter zusammen. Am 30. Juni wird Ost-Berlin hinter dem Brandenburger Tor für Besucher aus der Bundesrepublik gesperrt. Die BZ titelt: "Besuche in Ostberlin verboten". Angeblich sind diese Maßnahmen nur für fünf Tage gedacht. Doch am 5. September 1960 unterrichtet das Politbüro des ZK der SED den Genossen Chruschtschow per Telegramm darüber, dass "Bewohner Westberlins für Reisen durch die Deutsche Demokratische Republik [...] nur in Verbindung mit einer von den zuständigen Organen der DDR ausgestellten Aufenthaltsgenehmigung" durchgelassen werden. Am 15. September 1960 tritt diese Regelung in Kraft. Westdeutschland wiederrum reagiert und kündigt am 30. September 1960 das Interzonen-Abkommen.
Ulbirchts Neujahrsansprache 1960/1961
In seiner Neujahrsansprache am 31. Dezember 1960 sagt Ulbricht: "Was das Jahr 1960 für uns brachte, dass wissen wir nun. Das Jahr brachte uns große Erfolge in der Sowjetunion und der DDR. Für Sie, liebe Landsleute im Westen, und auch für uns, war es ein Jahr des Friedens und des Fortschritts. Was aber werden wir aus dem Jahr 1961 für uns zu vermachen verstehen?"
Spätestens am 13. August 1961 wussten das dann auch die Bürger in DDR und Bundesrepublik: Das Jahr 1961 brachte die Mauer und damit die entgültige physische Teilung Deutschlands.