Präsident des Sächsischen Landtags im Interview Matthias Rößler: Auf die Wiedervereinigung können die Deutschen stolz sein
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07. Dezember 2020, 15:18 Uhr
Der sächsische Landtagspräsident Matthias Rößler war politisch nicht aktiv. Bis sich das Land 1989/90 neu ordnete. Da trat er beim Demokratischen Aufbruch ein. Doch bei der ersten freien Wahl am 18. März 1990 bekam seine Partei nur 0,9 Prozent der Stimmen. 30 Jahre danach wertet Rößler die Einheit als Erfolg. Demokratie, offene Gesellschaft, Marktwirtschaft und Meinungsfreiheit seien die Garantie für ein gutes, gerechtes Leben. Man müsse aber den Zukunftsängsten der Bürger angemessen begegnen.
MDR Zeitreise: Sie machen seit 30 Jahren Politik und sind eigentlich Wissenschaftler. Wie kam das?
Matthias Rößler: In der DDR war ich ein Nischen-Ossi. Ich war politisch nicht aktiv. Ich war nicht in der SED, deshalb stagnierte auch mein Weg als Wissenschaftler. Als im Herbst 1989 viele meiner Freunde ausreisten, dachte ich, wir können hier etwas ändern und war auf der Suche nach einer politischen Heimat. Ich habe mir das Neue Forum angesehen, aber das steckte irgendwie fest. Auch die SPD war für mich mit ihren Zweifeln am Zehn-Punkte-Plan von Helmut Kohl nicht tragbar. Mir war klar, dass die Leute die Wiedervereinigung wollen. Der Demokratische Aufbruch orientierte sich gerade um in Richtung Wiedervereinigung und Marktwirtschaft. Schorlemmer und der sozialökonomische Flügel waren ausgetreten. Im Dezember bin ich dort Mitglied geworden und innerhalb weniger Wochen war ich im DDR-Vorstand in Ost-Berlin. Ich war nie für eine andere DDR. Ich war immer für die Wiedervereinigung.
Nach einer Umfrage des Spiegels und des ZDF im Dezember 1989 waren zu diesem Zeitpunkt aber nur 28 Prozent der Bevölkerung für die Wiedervereinigung...
Also so habe ich das hier nicht erlebt. Es gab eine große Dynamik dadurch, dass die Leute ganz schnell Veränderungen wollten. Es war der Druck der Straße, wie man immer so schön sagt. Da demonstrierten ja Hunderttausende unter sächsischen und deutschen Fahnen, unter Weiß-Grün und Schwarz-Rot-Gold. Und vor allen Dingen: Die Ausreisewelle war ja auch völlig ungebremst, da gingen ja auch Hunderttausende weg aus dem Osten. Das war ein regelrechter Aderlass. Und hätten wir diese Situation nicht in den Griff gekriegt durch eine schnelle Wiedervereinigung, wäre die DDR ganz schnell kollabiert - egal wie demokratisch sie regiert war.
Bei der Wahl selbst hat Ihre Partei, obwohl sie sich dem Kurs von Helmut Kohl angeschlossen hat, nicht so gut abgeschnitten.
Dem Ergebnis ging ja eine riesige Wahlschlacht zwischen den großen Volksparteien SPD und CDU voraus. Die bürgerbewegten Gruppen und ihre Nachfolger sind dabei gnadenlos unter die politischen Räder gekommen. Dem Demokratischen Aufbruch ging es da nicht besser als den anderen Parteien - dem Neuen Forum beispielsweise. Das war eine große Enttäuschung für uns: 0,9 Prozent bei der Wahl für den Demokratischen Aufbruch.
Ich war nie für eine andere DDR. Ich war immer für die Wiedervereinigung.
Die CDU war der Gewinner der Wahl. Die Leute haben jedoch die West-CDU, Helmut Kohl und seinen Weg zur deutschen Einheit gewählt. Mit der Ost-CDU hatte dieses Wahlverhalten überhaupt nichts zu tun.
Hat die Geschichte denjenigen Recht gegeben, die damals gegen diese ganz schnelle Einheit waren und vor den wirtschaftlichen und sozialen Folgen gewarnt haben?
Nein. Das historische Fenster hatte sich für einen Augenblick geöffnet. Und Helmut Kohl hat diese historische Gelegenheit ergriffen. Zwei Billionen Euro sind in den Osten geflossen. Noch nie ist in so kurzer Zeit so viel Geld in ein so kleines Gebiet geflossen. Das war eine grandiose Solidaritätsleistung, die die Vereinigung sozial abgefedert hat. Jedes Jahr wurden fünf Prozent des Bruttosozialprodukts in den Osten transferiert - manchmal auch zähneknirschend. Aber das hat die bundesdeutsche Gesellschaft geleistet.
Es gibt viele Menschen, die sich in den 1990er Jahren sozial und mental nicht gut abgefedert gefühlt haben...
Solche historischen Transformationsprozesse sind immer von Schmerzen und Brüchen begleitet, auch von Brüchen in Biographien. Das ist ganz unbestritten. Aber am Schluss ist die deutsche Wiedervereinigung gelungen. Und das ist, denke ich, ein gutes Ergebnis. Da können die Deutschen stolz darauf sein.
Verstehen Sie, warum viele Menschen sich von der Politik abwenden?
Die Unzufriedenheit kommt aus der Frage, was in der Zukunft sein wird. Wie wird es meinen Kindern gehen? Wie wird es meinen Enkeln gehen? Können wir das, was wir haben, behalten? Ich bin überzeugt, wenn wir uns konzentrieren, können wir, das, was wir uns erworben haben, behalten und für unsere Kinder und Enkel sichern. Dafür sollten wir in dieser Gesellschaft zusammenstehen und die Probleme anpacken - auch in der Wirtschaft.
Was ist die Aufgabe der Politik mit Blick auf die Zukunft?
Eine Gesellschaft ist solange stabil und solange gut regiert, wie die Leute das mittragen. Solange die Leute sagen, das, was die uns anbieten, Demokratie, offene Gesellschaft, Marktwirtschaft, Pluralismus, Meinungsfreiheit - das ist unsere Garantie für ein gutes und gerechtes Leben. Wenn wir das schaffen, dann ist mir um die Zukunft nicht bange. Ich denke, das wird gelingen.
Was ist der Maßstab für gute Politik?
Der Maßstab ist ein gutes Leben, Freiheit und Gerechtigkeit. Und das führt uns zum Ausgangspunkt zurück. Deshalb haben wir damals auch die friedliche Revolution gemacht. Die darauf folgende Einheit hat Stabilität und Wohlstand gebracht. Und jetzt haben einige Menschen Angst vor der Zukunft. Da braucht man klare Vorstellungen. Man muss den Leuten Angebote machen. Es geht um die Fragen: Wer bin ich? Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Was ist unsere Identität, wovon leben wir? Warum sind wir hier in dieser Gesellschaft zusammen? Warum sitzen wir hier in einem Boot und sollen auch noch rudern? Wir brauchen ein Ziel: Wo rudern wir hin? Und ich denke, da bietet unsere offene Gesellschaft die besten Argumente.
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | 15.03.2020 | 22:05 Uhr