Häftlingsrevolte in der DDR "Amnestie für alle Gefangenen!"
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22. September 2017, 16:47 Uhr
Ende September 1990 kommt es in der ganzen DDR zu Gefängnisrevolten. Die Häftlinge drohen mit Hungerstreik und Selbstmord und fordern eine Amnestie für alle. Sie fürchten, nach der Wiedervereinigung vergessen zu werden.
Am 24. September 1990 um 19.30 Uhr fährt ein roter Wartburg vor dem Staatsratsgebäude in Berlin vor. Darin sitzt Pfarrer Johannes Drews, seit 1988 katholischer Anstaltspfarrer in der HVA Brandenburg. In seinem Gefängnis revoltieren die Häftlinge. Er soll vor der Volkskammer für die Interessen der Gefangenen sprechen. Seit vier Tagen droht die Situation in den Haftanstalten der DDR zu eskalieren. Es sind die letzten Tage der DDR. Seit Monaten bleiben Gnadengesuche und Bitten um Revision der Häftlinge ohne Antwort. Die 4400 Häftlinge, die noch in DDR-Gefängnissen sitzen, haben Angst, vergessen zu werden und fordern eine umfassende Amnestie.
Vier Männer auf dem Dach
Begonnen hatte alles nur wenige Tage zuvor: Pfarrer Johannes Drews war gerade zum Gesprächskreis „Glaubens- und Lebensfragen“ in der Brandenburger Haftanstalt, als er erfuhr, dass vier Männer das Dach der Anstalt besetzt hätten. Er meldete es nicht und fuhr nach Hause. Nachts um eins wurden die Männer vom Wachpersonal entdeckt. Sie hatten sich mit Seilen festgebunden und drohten zu springen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden. 98 weitere Gefangene traten solidarisch in Hungerstreik.
Die Revolte weitet sich aus
Von Brandenburg aus ergreift die Häftlingsrevolte die gesamte DDR. Am 23. September proben schon mehr als 400 Häftlinge in 25 Gefängnissen den Aufstand. Sie besetzen Dächer, zerstören Gefängniseinrichtungen und treten in Hungerstreik. Die Lage ist explosiv. Es fehlt Personal, um die Lage gewaltsam unter Kontrolle zu bringen. Politiker wie der damalige Innenminister Peter-Michael Diestel oder Ministerpräsidentskandidat Manfred Stolpe versuchen die Lage durch Gespräche mit den Inhaftierten zu deeskalieren.
In den Fenstern und auf Dächern hängen Laken mit den Forderungen der Inhaftierten: "Gerechtigkeit für alle", "Amnestie für den 03.10.1990", "Wir fordern Generalamnestie für alle Gefangenen." In der Öffentlichkeit hält sich das Mitgefühl für die Gefangenen in Grenzen. Denn politische Häftlinge gibt es in den Gefängnissen eigentlich nicht mehr.
Die politischen Häftlinge sind schon draußen
Schon im Dezember 1989 hatte der Umbruch in der DDR auch die Gefängnisse erreicht. In den Haftanstalten wurden Gefangenenräte gebildet, Journalisten durften einzelne Anstalten besuchen und es kamen erstmalig Informationen über die Zustände in den DDR-Gefängnissen an die Öffentlichkeit. Am 6. Dezember wurde eine Amnestie für alle Häftlinge beschlossen, die wegen eines rein politischen Delikts, wie Republikflucht einsaßen. Außerdem duften auch die Häftlinge gehen, die zu einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren verurteilt worden waren, etwa wegen „krimineller Asozialität“ oder „Arbeitsbummelei“. So war das berüchtigte Gefängnis Bautzen II, in dem vor allem politische Häftlinge saßen, zu Weihnachten 1989 leer. Bis Februar 1990 waren zwei Drittel aller Gefangenen entlassen.
Amnestie für Schwerverbrecher?
Die, die jetzt noch in den Gefängnissen sitzen, sind vor allem Menschen, die wegen schwerer Verbrechen wie Mord, Totschlag, Sexualdelikte, schweren Betrugs verurteilt worden waren. Innenminister Peter-Michael Diestel, der mehrmals zu Häftlingen aufs Dach kletterte, um mit ihnen zu reden, bringt die Problematik auf den Punkt:
Die Häftlinge saßen natürlich alle aus politischen Gründen! Der eine wegen politischen Mordes, beim anderen war es sexualpolitisch, bei wieder einem anderen eigentumspolitisch.
Doch als Pfarrer Johanes Drews am 24. September aus seinem roten Wartburg steigt, ist er fest entschlossen, sich in der Volkskammer für eine Amnestie einsetzen. Auf die Frage der Reporter an ihn, warum eine Amnestie gerechtfertigt sei, antwortet er: „Einfach auf Grund dessen, was die Gefangenen durchgemacht haben.“ Eine etwas laue Argumentation, um verurteilte Verbrecher freizulassen.
Vor der Volkskammer werden seine Argumente dringlicher: Es sei in der DDR gang und gäbe gewesen, Delikte, für die sich kein Schuldiger gefunden hat, anderen zusätzlich mit in die Schuhe zu schieben. Die meisten, die jetzt noch einsitzen, hätten deutlich zu hohe Strafen bekommen. Geständnisse wurden erzwungen, oder unter Medikamenten erpresst. Ein weiterer Anstaltspfarrer unterstützt ihn.
Justizunrecht revidieren
Was sie erzählen, bringt Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl dazu, empört auszurufen, dass sie an diesem Tag mehr über Justizunrecht gehört habe, als in ihrer ganzen vorhergehenden Amtszeit. Justizminister Walther, Hardliner in dieser Frage, der nichts von einer Amnestie wissen will, stürmt mit hochrotem Gesicht aus dem Saal.
Die Volkskammer beschließt an diesem Abend, dass wenige Tage vor der Wiedervereinigung noch ein Gesetz verabschiedet werden soll, das allen Häftlingen Gerechtigkeit bringen soll. Die meisten Politiker lehnen zwar eine allgemeine Amnestie ab. Wegen der anhaltenden Revolten verabschiedet die Volkskammer jedoch trotzdem am 28. September eine Teilamnestie, die bestimmt, dass allen Häftlingen, außer Schwerverbrechern, ein Drittel der Haftstrafe erlassen werden soll. Außerdem hat jeder in der DDR Verurteilte das Recht, dass sein Fall von einer unabhängigen Kommission noch einmal überprüft wird. Daraufhin entspannt sich die Lage in den Gefängnissen. Schon am 30. September werden die ersten Häftlinge entlassen.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV in : Sachsenspiegel Reportage - Aufstand hinter Gittern | 06.05.2009 | 21.15 Uhr