Student foppt SED-Funktionäre Kommunalwahl 1989: Der Kandidat der Opposition
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19. April 2010, 09:42 Uhr
Matthias Klipp war 1989 "Kandidat der Nationalen Front". Aber er kandidierte für eine oppositionelle Bürgerinitiative. So etwas hatte es nie zuvor gegeben.
"Wir waren jung und wahnsinnig überzeugt von uns. Von unserer Intelligenz und unserem Witz. Und es hat riesigen Spaß gemacht, die SED-Funktionäre zu leimen und zu provozieren. Die Arbeit war auch sehr lustvoll, denn im Wohnbezirksausschuss waren natürlich die schönsten Frauen aus der Oderbergerstraße." So erinnert sich Matthias Klipp an die verrückten Monate im Frühjahr 1989.
Bürgerinitiative Oderbergerstraße
Klipp ist damals Mitte Zwanzig, Bau-Ingenieur und wohnt in der Oderbergerstraße im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Gemeinsam mit Künstlern und Handwerkern hat er 1988 die Bürgerinitiative "Oderbergerstraße" ins Leben gerufen: Sie veranstalten illegale Ausstellungen und Lesungen, rekultivieren brachliegende Trümmergrundstücke und protestieren gegen den geplanten großflächigen Abriss der alten Bausubstanz am Prenzlauer Berg.
Unabhängiger Kandidat zur Kommunalwahl
Im Januar 1989 kommt Klipp auf eine verwegene Idee: Er will als unabhängiger Kandidat der Bürgerinitiative zur Kommunalwahl antreten. "Zum einen war's 'ne Provokation, um mal zu gucken, wie weit man gehen kann. Zum andern hatte das auch einen ganz klaren Hintergrund: Wir wollten in die Stadtbezirksversammlung rein und dort auch Anträge stellen und Informationen generieren für unsere Arbeit. Wir hatten die Vorstellung, dass man dort Reden halten und sogar Mehrheiten organisieren kann." Klipp plant einen "langen Marsch durch die Institutionen".
Mehrheit im Wohnbezirksausschuss
Aber wie stellt man sich zur Wahl auf? Matthias Klipp findet heraus, dass der Wohnbezirksausschuss, eine von der SED beherrschte Bürgerversammlung, Kandidaten zur Wahl aufstellen kann. "Im Wohnbezirksausschuss waren nur noch einige ältere Leute. Da sind wir mit unserer Truppe hin und haben gesagt, wir würden hier gern eintreten. Und als erstes stellten wir mal den Antrag, den WBA-Vorsitzenden neu zu wählen. Und weil wir eine große Anzahl Leute waren, hatten wir sofort die Mehrheit."
Krisensitzungen im Rat des Stadtbezirkes
Matthias Klipp wird umgehend zum "Kandidaten der Nationalen Front" für die Kommunalwahlen am 7. Mai aufgestellt. Im Rat des Stadtbezirks schlägt diese Nachricht wie eine Bombe ein. "Die waren wochenlang nur damit beschäftigt und es hat eine Krisensitzung nach der anderen gegeben", erinnert sich Klipp. Die SED lässt nichts unversucht, um seine Kandidatur zu verhindern. Die Kandidatenlisten seien voll, behauptet man und lässt ihn rund um die Uhr von der Staatssicherheit observieren in der Hoffnung, ihm strafbare Handlungen nachweisen zu können. Aber sie finden nichts und müssen schließlich klein beigeben. Klipp darf zur Wahl antreten. Er ist der erste oppositionelle Kandidat in der DDR. Niemandem ist das je geglückt. Klipp druckt Plakate mit seinem Bild und veranstaltet große Wahlpartys mit Tausenden Besuchern.
Aber am Wahltag stimmt Klipp mit Nein
Im seinem Wahllokal stimmt Klipp am 7. Mai aber mit Nein. Er streicht sämtliche Namen auf dem Wahlzettel durch. Auch seinen eigenen. "Das mag aus heutiger Sicht ein bisschen schizophren klingen", sagt er, "aber das war die einzige Möglichkeit, ein Zeichen zu setzen gegen dieses Wahlverfahren." Gewählt ist er natürlich trotzdem - der erste oppositionelle Abgeordnete in der DDR. Aber sein Wahlerfolg hat einen bitteren Beigeschmack. "Mir war klar, dass ich auf Grund von gefälschten Wahlen gewählt worden bin. Ich hätte mit einem Wahlergebnis von 80 oder 85 Prozent durchaus leben können, ich brauchte keine 98 Prozent."
Fünf Jahre Zuchthaus für "staatsfeindliche Hetze" drohen
Bei der konstituierenden Sitzung der neu gewählten Berliner Stadtverordnetenversammlung werden dem Abgeordneten Matthias Klipp jedoch vom SED-Stadtrat für Inneres sofort die Grenzen aufgezeigt. "Er hat mich empfangen und hatte das Strafgesetzbuch der DDR auf dem Tisch liegen und mich auf die entsprechenden Paragrafen "staatsfeindliche Hetze" hingewiesen und gesagt, wenn ich das und das mache, da wüsste ich ja, dass darauf fünf Jahre Zuchthaus stehen."
"Ihr habt keine Legitimation"
Seine Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des Systems hat Matthias Klipp, der heute als Projektmanager in einer Immobilenfirma arbeitet, aber bereits verloren. Und die Wahlfälschung gibt dazu den entscheidenden Anlass. Klipp konzentriert sich zunehmend auf oppositionelle Aktivitäten. "Die Wahlfälschung hat enorm zur Delegitimierung des Systems beigetragen, dann aber auch zur Erleichterung der Runden Tische im Herbst 1989. Wir konnten ja immer sagen: Was wollt ihr überhaupt? Ihr seid aus einer gefälschten Wahl hervorgegangen, ihr habt keine Legitimation."