Sozialistische Entwicklungshilfe Plötzlich im Krieg: DDR-Ärzte für Äthiopien
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03. April 2020, 17:13 Uhr
Vor 40 Jahren starten Ärzte aus dem Leipziger Universitätsklinikum ein einzigartiges Projekt: Im fernen Äthiopien helfen sie beim Aufbau einer Medizinfakultät. Sie unterstützen das sozialistische Land mit Fachwissen, Instrumenten und Laborausrüstung – und geraten mitten in einen Bürgerkrieg.
Es ist eigentlich unvorstellbar: Als DDR-Bürger nach Afrika reisen. Auch für die jungen Ärzte Christa und Joachim Barth liegt dieser Traum in weiter Ferne – bis sie im Frühjahr 1983 eine einmalige Chance bekommen: "Äthiopien, das war Wunschtraum und Herausforderung zugleich", erinnert sich Christa heute. Dass in dem sozialistischen Land jedoch ein blutiger Bürgerkrieg tobt, weiß sie zu dieser Zeit nicht.
Christa und Joachim sind damals Anfang 40. Seit kurzem haben beide ihren Facharzt in der Tasche und arbeiten am Leipziger Universitätsklinikum. Christa ist Augenärztin, Joachim hat sich auf Dermatologie spezialisiert. Als Äthiopien Ende der 1970er-Jahre dringend Lehrkräfte braucht und die DDR aushilft, bewerben sich beide auf das Abenteuer Afrika. Es klappt. Für ein halbes Jahr sollen sie Medizinstudierende in Äthiopien ausbilden. "Sozialistische Bruderhilfe" heißt das damals.
Äthiopiens Vergangenheit
Das ostafrikanischen Land ist von 1974 bis 1991 ein sozialistisch geprägter Staat. Mit Unterstützung der Sowjetunion putscht sich das Militär unter Diktator Mengistu Haile Mariam 1974 blutig an die Macht und stürzt den Kaiser Haile Selassi. In Äthiopien sieht die DDR einen engen Verbündeten – gleiches gilt für die sozialistischen Länder Angola und Mosambik. Mit Beginn der 1960er-Jahre delegiert die DDR immer mehr sogenannte Auslandskader als Aufbauhelfer in Entwicklungsländer, darunter Ärzte, Lehrer oder Ingenieure.
Botschafter des Sozialismus
Wie Christa und Joachim sind damals schätzungsweise 30.000 DDR-Bürger weltweit im Einsatz. "Gondar war für die DDR ein riesiges Prestigeobjekt. Man wollte Fuß fassen in Äthiopien, auch um den Sozialismus in die Welt zu tragen", so Joachim. Aber: "Wir waren keine Politfunktionäre, wir waren Ärzte. Für uns war es eine zutiefst humane Angelegenheit."
Neben der Solidarität mit Äthiopien ist das deutsche Engagement auch von wirtschaftlichen Bedürfnissen geleitet. Bis Ende der 1970er-Jahre gilt die Formel: DDR-Waffen und Maschinen für die Landwirtschaft gegen hochwertigen Kaffee.
Ohne Kinder ins Abenteuer
Um sicher zu gehen, dass Christa und Joachim auch wieder zurückkommen, werden sie vor ihrer Reise nach Äthiopien gründlich durchgecheckt. Die Stasi befragt Freunde, Nachbarn und selbst die Kindergartenleiterin ihres Sohnes. Denn damals ist es eine große Ausnahme, dass gleich beide Ehepartner ins Ausland dürfen. Doch: Sie müssen ihre Kinder in der DDR zurücklassen. "Die Gefahr bestand sonst, dass wir nicht wieder zurückkommen", erklärt Christa.
Ihr zehnjähriger Sohn singt damals bei den Thomanern, ihre Tochter ist 15 Jahre alt und geht auf die Leipziger Thomasschule. Doch das Ärztepaar hat Glück: Freunde aus Chemnitz ziehen für eine halbes Jahr bei ihnen ein und kümmern sich um die Kinder. "Wenn sie ins Heim gemusst hätten, wäre ich nicht mitgekommen", so Christa. Neben der Neugier auf das Unbekannte, heißt es damals auch Abschied nehmen von der Familie – wenngleich auf Zeit.
Gondar: "Das war ein Schockerlebnis."
Ein halbes Jahr bereiten sich beide, oft nach Dienstschluss, auf die Reise und ihre neuen Aufgaben in Äthiopien vor. Sie lernen Englisch, erarbeiten Lehrmaterial und studieren tropische Krankheiten. Im Herbst 1983 geht es schließlich los: erst mit einer Interflug-Maschine in die Hauptstadt Addis Abeba und von dort aus mit einer kleinen Propellermaschine hunderte Kilometer weiter in den gebirgigen Norden des Landes – nach Gondar.
Doch der erste Eindruck ist ernüchternd: "Es gab einen unvorstellbaren Unterschied was die Lebensqualität betraf, große Armut, Leprakranke. Das war ein Schockerlebnis", so Joachim. Zugleich herrscht eine schwere Hungersnot im Land. Noch heute erinnert sich Christa an die Kinder in den Straßen mit ihren dicken Bäuchen und dünnen Ärmchen.
Was die deutschen Ärzte in der Medizinischen Fakultät in Gondar vorfinden, ist überschaubar: "Ich habe eine große Kiste aus der DDR mitgebracht und was nicht da war, das war eben nicht da. Improvisation war angesagt", erinnert sich die Ärztin. Täglich unterrichtet sie etwa 70 Studierende. Nebenher behandelt sie Kranke. Manchmal kommen Patienten erst nach tagelangen Fußmärschen bei ihr an. Als eine der ersten deutschen Augenärzte im Land operiert Christa vor allem Menschen mit Grauen Star: "Bei meiner ersten Operation hat der Patient nach der Verbandsentfernung gerufen 'Ich kann sehen' und da haben alle anderen Patienten im Zimmer vor lauter Freude mitgeschrien."
Ein bisschen DDR-Feeling
Mit der Lehre und den Behandlungen sind ihre Wochen vollgepackt. "Viel Freizeit gab es nicht", so Christa. Trotzdem schaffen sie es, einen Gemüsegarten vor dem Haus zu bewirtschaften. Sie bauen Tomaten, Bohnen und Salat an – ein bisschen DDR-Kleingartengefühl in Äthiopien. Am Wochenende nutzen sie ihre Freizeit vorwiegend zum Wandern. Da es ab Mittag zu heiß ist, geht es immer schon morgens um sechs los: Mit einem Papyrusboot auf den Tanasee oder zum Wandern ins Gebirge.
Gefangen im Krieg
Doch schon nach wenigen Wochen werden ihre Ausflüge weniger. Wegen eines Bürgerkriegs im Land und zunehmenden Militäreinsätzen verschärft sich die Sicherheitslage. Auf einmal werden aus den Ärzten und Lehrern Kriegsmediziner. "Von der Hungersnot hatten wir schon gehört, das war klar, aber vom Krieg wussten wir nichts", so Christa. Vermehrt kommen nun Patienten mit Gesichts- und Augenverletzungen zu ihr. Auch ihr Mann Joachim hat es auf einmal mit Kriegsverletzungen zu tun: "Ich musste plötzlich mitoperieren, das hätte ich in diesem Umfang zu Hause nie gemacht", so Joachim. Schlagartig ändert sich ihr Aufenthalt.
Da lernt man, was Leben wert ist.
Die jungen DDR-Ärzte sind mitten im Krieg. Im Norden kämpft Äthiopien gegen die Befreiungsbewegungen aus Eritrea und der Region Tigray. "Der Krieg wurde immer schlimmer. Die jungen Soldaten fuhren montags singend los und kamen, wenn überhaupt, am Mittwoch schwer verwundet wieder zurück", erinnert sich Christa. Leichen für den Anatomie-Unterricht, die anfangs aus traditionellen Gründen nur schwer zu beschaffen sind, bekommen sie nun im täglich.
Offene Wunden, Schussverletzungen, traumatisierte Patienten: "Diese Bilder haben wir mit nach Hause genommen", erzählt Christa. Auch für die Ärzte ist es zu dieser Zeit gefährlich. Es herrscht quasi Ausgangssperre. Immer häufiger kommt es zu Anschlägen. Reisen über die Ortsgrenze hinaus sind kaum noch möglich. Für den Ernstfall hat das Ehepaar stets einen Koffer mit Notfallmedizin bereitstehen.
Pioniergeist und Vorzeigeprojekt
Als sie im Frühjahr 1984 ihre Heimreise in die DDR antreten, sind sie froh, den Krieg hinter sich zu lassen und stolz auf ihre Pionierarbeit. Jahr für Jahr kommen 20 neue deutsche Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen nach Gondar. Sie sind voll in die medizinische Versorgung eingebunden. Die Kooperation zwischen der Karl-Marx-Universität und Äthiopien läuft noch über Jahre hinweg. Auch Mediziner aus anderen Hochschulen Mitteldeutschlands wie Magdeburg, Jena und Dresden stoßen im Laufe der Zeit dazu.
Erst 1989 geht das Projekt mit Äthiopien zu Ende. Insgesamt werden in zehn Jahren 417 Ärzte ausgebildet. Nicht wenige sind heute in den USA, Kanada und Deutschland tätig. Es ist ein DDR-Vorzeigeprojekt im Bereich der Medizin. Dass die langjährige Kooperation und Leistung jedoch bis heute kaum gewürdigt sind, ärgert die beiden Ärzte: "Alle haben mit großem Einsatz über Jahre ein komplettes Medizinstudium in Afrika auf die Beine gestellt. Ein solches Erfolgsmodell war nicht nur zu DDR-Zeiten einmalig, sondern ist es auch noch heute", so Joachim.
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: 15.10.19 | 22:05 Uhr