30.05.1968: Sprengung der Leipziger Universitätskirche Walter Ulbricht: "Das Ding muss weg!"
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30. Mai 2023, 05:00 Uhr
Am 30. Mai 1968 wurde die Leipziger Paulinerkirche auf Weisung der SED gesprengt. St. Pauli war 1240 als Klosterkirche geweiht worden. 300 Jahre später wurde sie der Universität übereignet. Die Kirche überstand die Bombardierung Leipzigs 1943 und fiel schließlich 1968 der sozialistischen Umgestaltung der Universität zum Opfer.
"Das Ding muss weg!" – so soll sich laut Leipziger Volksmund SED-Chef Walter Ulbricht beim Anblick der Paulinerkirche geäußert haben.
Und dieser Ausspruch bedeutete das Todesurteil für das traditionsreiche Gebäude im Leipziger Stadtzentrum. Überliefert ist ein Besuch Walter Ulbrichts in seiner Geburtsstadt Leipzig bei der Eröffnung des Opernhauses im Oktober 1960. Nach der Vorstellung bleibt Ulbricht zusammen mit dem SED-Bezirkssekretär Paul Fröhlich auf der Vortreppe stehen, Rundblick über den weiten Platz, der damals Karl-Marx-Platz hieß (heute Augustusplatz), 100 Meter entfernt die Paulinerkirche mit ihrem gotischen Spitzgiebel neben den Trümmern der im Krieg zerstörten Universität. Missmutig bemerkt Ulbricht:
Das Ding muss weg! [...] Wenn ich aus der Oper komme, will ich keine Kirche sehen.
Die sozialistische Universität
Die Umgestaltung des Platzes ist fällig, die Universität braucht endlich neue Gebäude, nachdem ihre Hörsäle und Labore im Krieg zerstört worden waren. Kein geringerer als der berühmte Architekt Herbert Henselmann entwirft den sogenannten "Uni-Riesen", das Hochhaus in Form eines aufgeklappten Buches. Von insgesamt fünf Entwürfen für die Neubebauung des Platzes nimmt nur einer Rücksicht auf die im Krieg wundersamerweise unbeschadet gebliebene Paulinerkirche – vormals eine Klosterkirche und seit der Universitätsgründung von 1409 ein zentraler Ort des universitären Lebens in Leipzig. Sie wurde als Aula benutzt und als Hörsaal, dort predigte Martin Luther, dort musizierte Johann Sebastian Bach. Die Kirche birgt in ihrem Inneren Kunstschätze: mittelalterliche Grabplastiken, Kircheninventar aus mehreren Jahrhunderten. Das alles ist für die Machthaber der neuen Zeit nur unnützer Plunder.
Ein Gebäude mit Karl-Marx-Relief
Etwas Neues muss her, ein funktionaler Zweckbau, ein Seminargebäude mit Karl-Marx-Relief. Heimlich wird geplant, in geheimer Sitzung am 22. Mai 1968 informiert Paul Fröhlich seine Genossen über den Stand der Dinge: "Genossen, das Politbüro hat die Vorlagen der Bezirksleitung über den Aufbau des Zentrums der Stadt Leipzig bestätigt. Das bedeutet aber, dass die gesamte Altbausubstanz, also auch die Kirche, aus raum- und städtebaulichen Erwägungen keinen Platz mehr haben wird. [...] Nun, die Stadtverordneten werden morgen beschließen, dann wird das durchgeführt. So etwas ist einmalig, Genossen, städtebaulich, architektonisch, künstlerisch."
Der Bau einer solchen Universität ist die größte humanistische Tat der Deutschen Demokratischen Republik!
Widerspruch und Widerstand
Dass dieser "größten humanistischen Tat" eine Kirche geopfert werden sollte, das behagte vielen Leipzigern nicht. Widerspruch kam von den Kanzeln der Kirchen ebenso wie aus den Reihen der Studenten: In den Tagen vor der Sprengung etwa zogen Journalistik-Studenten mit einem Schweigemarsch durch die Innenstadt, andere trafen sich in kleinen Gruppen mit Transparenten, wieder andere versuchten, am Neuen Rathaus mit den Stadtoberen ins Gespräch zu kommen – vergeblich, ihre Gruppe wurde von der Polizei zerstreut. Auf handgeschriebenen Flugblättern war zu lesen: "Leipziger! Die geplante Sprengung der Universitätskirche im Rahmen der Neugestaltung des Karl-Marx-Platzes ist eine Kulturschande. Richtet Euren Protest an den Oberbürgermeister!" Am 27. Mai wurden mehr als 30 Leipzigern verhaftet, gegen 13 von ihnen gab es später Verfahren.
Sprengung am 30. Mai 1968: Alle Kirchenglocken läuten
Am 30. Mai 1968 schließlich fällt die Paulinerkirche in sich zusammen, zielgenau gesprengt auf Veranlassung der SED. Aus Protest läuten die Kirchenglocken der anderen Kirchen der Innenstadt. Die Leipziger dürfen aus 150 Metern Entfernung zusehen. Noch am selben Tag beginnt der Abtransport der Gesteinsmassen, auf einem Bauschuttplatz in Probstheida soll Gras über die Sache wachsen.
Für viele Leipziger ist die Sprengung der Universitätskirche, als ginge der Stadt ein Stück Identität verloren. Noch ein Vierteljahrhundert später beweisen die emotionalen Debatten um den Neubau des Paulinums, wie schmerzhaft die Sprengung der Kirche damals empfunden wurde.
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: ZEITREISE SPEZIAL - DIE PAULINERKIRCHE | 03.12.2017 | 22:25 Uhr
Dieser Artikel wurde erstmals 2009 veröffentlicht.