Sozialforschung Was die DDR-Jugend über Liebe, Partnerschaft und Zukunft dachte
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06. Oktober 2022, 06:34 Uhr
Meinungsforschung gab es offiziell in der DDR nicht, aber inoffiziell sogar auf hohem Niveau. Der einzige Leiter des Zentralinstituts für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig, Walter Friedrich, bezeichnet sein Haus gar als ein "merkwürdiges Institut". Dabei sind die Studien aus dem ZIJ bis heute Gold wert.
Ein Institut wie das Zentralinstitut Leipzig hätte es gar nicht geben dürfen. Zumindest meint das Walter Friedrich in seinem Vorwort zum 1999 erschienen Retrospektiv-Werk "Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966-1990". In der DDR wurden öffentliche Diskussionen über real existierende soziale und kulturelle Probleme als überflüssig betrachtet. Andererseits erlaubten gerade die verlässlichen realsozialistischen Bedingungen und genügend Abstand zur Machtzentrale in Berlin, dass ein sehr effektiver und hochspezialisierter Wissenschaftsbetrieb entstand. "Bevor jemand bei uns vorbei kam, um uns zu kontrollieren, das dauerte immer eine Weile", sagt Uta Schlegel, die als Geschlechtersoziologin am ZIJ gearbeitet hat.
ZIJ: Strikte Aufgabenteilung und hohe Spezialisierung
Auch Kurt Starke, noch heute als der "Sexpapst der DDR" bekannt, gehörte zu den interdisziplinär arbeitenden Psychologen, Soziologen, Kulturwissenschaftlern und Medizinern am ZIJ. In seinem zum Tod vom Walter Friedrich geschriebenen Text erklärt er, wie das Institut mit der Idee seines Gründers erfolgreich wurde. Schon als junger Wissenschaftler hatte dieser multidisziplinäre Jugendforschung initiiert und betrieben. Am ZIJ setzte der dann seine Vorstellungen von einer modernen Sozialforschung um, setzte auf strikte Aufgabenteilung und hohe Spezialisierung, was Effektivität und Qualität zur Folge hatte, aber auch intensive Zusammenarbeit erforderte. Und "er ließ den Wissenschaftlern auch die Freiheit, zu Hause zu arbeiten, bestand aber auf pünktlicher Abgabe der Ergebnisse", erinnert sich Uta Schlegel.
Waren die Forschungsberichte geschrieben wurden diese selten veröffentlich, viele verschwanden sogar im Panzerschrank. Lediglich ausgewählte Personen der Staatsführung lasen brisante Ergebnisse, etwa zur Wehrdienstverweigerung, der Nutzung von Westmedien oder der Entwicklung rechtsextremer Einstellungen. Um die 400 Studien wurden insgesamt durchgeführt. Bekanntester Vertreter ist das Standardwerk "Liebe und Partnerschaft bis 30", welches, wie Kurt Starke ausführt, in keinem Plan zum Druck stand, aber dennoch entstand und ein Verkaufsschlager wurde. Walter Friedrich habe vieles auf eigene Kappe genommen, um wenigstens einen kleinen Teil der Ergebnisse der Sozialforschung öffentlich machen zu können, schreibt Kurt Starke. Und weiter: "Wir unterlagen sowieso einem strengen und völlig sinnlosen Verbot der Publikation unserer Daten."
Methodenhandbuch des ZIJ: Bibel der Sozialforschung
Dennoch wurde das ZIJ auch im Ausland immer bekannter. Das lag vor allem an seinen vielfach durchgeführten Längsschnitt- oder Intervallstudien, die durch die über Jahre wiederkehrende Befragung derselben Personen Entwicklungen von Einstellungen, Meinungen und Verhalten dokumentieren. Sie sind aufwändig und brauchen Konstanz bei den Forschern – im DDR-Wissenschaftsbetrieb war das kein Problem. So wurden beispielsweise von 1968 bis 1980 in zwölf Wellen "Entwicklungsfaktoren und Entwicklungsformen von Jugendlichen in der DDR" untersucht. Wenn aufgrund von politischen Restriktionen keine Forschungen in den angestrebten Bereichen möglich waren, und das kam oft vor, suchte sich das ZIJ andere Aufgaben. So entstand das Methodenhandbuch "Der Sozialwissenschaftliche Forschungsprozess" und "das war die Bibel der Sozialforschung", so Uta Schlegel.
Nach der Wende: Abwicklung des ZIJ
1989 bis 1990 fertigte das ZIJ noch einmal eine ganze Reihe an Meinungsbarometern an, nun zur Veröffentlichung, zum Beispiel im BRD-Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Mit der Wiedervereinigung hoffte man auf eine Fusion mit dem seit 1965 in der BRD in München existierenden Deutschen Jugendinstitut. Danach sah es auch aus und das wurde am Institut auch vorbereitet. Doch dann stand im Einigungsvertrag die Abwicklung des ZIJ und so kam es auch, trotz vieler Proteste aus dem In- und Ausland. "Die genauen Hintergründe, warum das so passiert ist, das wollen wir nochmal aufarbeiten, denn das wissen wir so genau nicht", sagt Uta Schlegel.
Was vom ZIJ bleibt sind um die hundert Wissenschaftler, die überwiegend einen guten Platz im wiedervereinigten Deutschland gefunden haben und größtenteils noch heute einander intensiv verbunden sind. Der "Geist des ZIJ" basiere nicht nur auf intensiver interdisziplinärer Forschung, sondern auch auf gemeinsamen Ausflügen und Silvesterfeiern, so Uta Schlegel und Kurt Starke. Die Ergebnisse ihrer Forschungen liegen heute nicht mehr im Panzerschrank, sondern sind im Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung in Köln einsehbar. In der seit 1989 geführten Sächsischen Längsschnittstudie lebt das ZIJ darüber hinaus mit seinen Methoden fort: hier werden jährlich dieselben Menschen zu ihrem Erleben im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung befragt.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | 03.11.2019 | 22:25 Uhr