Diät, Bewegung und Insulin Wie die DDR ihre Diabetiker versorgte
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14. November 2020, 05:00 Uhr
Obwohl bereits am 23. Januar 1922 erstmals ein an Diabetes erkrankter Mensch in England mit Insulin behandelt wurde, war noch in den 1950er-Jahren ein couragierter Hausarzt nötig, der kurzerhand den Urin des Patienten kostete, um die Diagnose einer Diabetes zu stellen. Damals war Typ 1 Diabetes, der in der Kindheit auftrat, das größte Problem. Doch in den 70er- und 80er-Jahren entwickelten immer mehr DDR-Bürger "Typ 2" – eine Zivilisationskrankheit durch Bewegungsmangel und zu viel falsches Essen. Diät hieß es dann für Erwachsene mit Typ-2-Diabetes und für die Typ-1-kranken Kinder: Schulungen in den Sommerferien.
Der deutsche Internist Gerhardt Katsch begann nach dem ersten Weltkrieg, sich mit dem Diabetes mellitus zu beschäftigen und legte 1930 in Garz auf Rügen den Grundstein für die Behandlung und Betreuung der Diabetiker in der späteren DDR. Da war er gerade seit zwei Jahren Direktor der Medizinischen Klinik und Professor für Innere Medizin an der Universität Greifswald. 1921 hatten kanadische Wissenschaftler das Insulin entdeckt. Bereits am 23. Januar 1922 wurde erstmals ein an Diabetes erkrankter Mensch in England mit Insulin behandelt. Seitdem forschte Katsch intensiv an der Behandlung der Diabetiker. Nun konnte er seine Ideen umsetzen.
Diebetes mellitus: früher ein Urteil
Als Manfred Eve aus Jena 1959 mit gerade mal elf Jahren die Diagnose Diabetes mellitus erhielt, hieß es noch:
Damit überlebt man höchstens 20 Jahre. Da dachte ich: Das beweise ich euch, dass ich damit länger lebe!
73 Jahre ist er inzwischen alt, rüstig und munter. Lediglich die Augen sind seit vielen Jahren krank, diese Folge seiner angeborenen Diabetes Typ 1 konnte er nicht vermeiden. Seine außerordentliche körperliche Fitness verdankt Eve einem strikten Ernährungsplan, den seine medizinisch geschulte Mutter für ihn einhielt. Sie achtete auf regelmäßige, gleichbleibende Essenszeiten mit entsprechenden Insulininjektionen und maß später auch seinen Blutzucker. Außerdem bewegt sich Manfred Eve auch heute noch ausgiebig.
Diabetikerkur aus Greifswald macht weltweit Schule
Das Prinzip, Typ-1-Diabetiker mit einer Kombination aus Diät, Bewegung, Schulung und Insulin zu behandeln, stammt von Gerhard Katsch. Im Garzer "Diabetikerheim" lernten die Kranken nach diesem Prinzip zu leben. Katsch vertrat die Ansicht, dass Diabetiker nicht als krank, sondern als "bedingt gesund" anzusehen seien. Nach seinem Vorbild entstanden Ende der dreißiger Jahre weltweit ähnliche Einrichtungen. 1947 entstand in Schloß Karlsburg bei Greifswald das Zentralinstitut für Diabetes die zentrale Behandlungs- und Forschungseinrichtung für Diabetiker in der DDR. Gerhardt Katsch wirkte hier bis zu seinem Tod 1961.
Kinder: Einmal jährlich zur Diabetes-Schulung nach Rügen
In Garz wurde weiterhin Kindern vermittelt, wie sie mit ihrem Typ-1-Diabetes leben konnten. Sieben bis 16-Jährige mit Diabetes kamen einmal jährlich hierher. Auch Manfred Eve verbrachte nach der Diagnose einen Teil seiner Sommerferien auf Rügen. Die Aufenthalte dienten der intensiven Versorgung und Schulung. Die Kinder und Jugendlichen sollten lernen, im Alltag selbstständig mit ihrer Beeinträchtigung zurechtzukommen. Der jugendliche Manfred Eve genoss die Zeit dort:
Es gab auch Freiheiten. Ich bin mit dem Rad die ganze Insel abgefahren, bekam ein Lunchpaket mit. Ich hatte dort immer ideale Werte!
Für kleinere Kinder war es schwieriger. Birgit Behrendt bekam ihre Diagnose mit fünf Jahren. Sie beschreibt ihre Zeiten in Garz auf diabetes-online.de als freudlos. Sie erlebte die Tage dort als straff organisiert. Gramm-genau wurden die Essensrationen zugeteilt, nach dem Frühstück ging es zur Arbeit in Haus und Garten.
Die tägliche Not mit den Insulin-Spritzen
Waren die Diabetiker erwachsen, wurden sie regelmäßig in der Klinik Karlsburg durchgecheckt und auf die richtige Insulinmenge eingestellt. Manfred Eve erinnert sich noch gut an diese Zeit. Im Alltag war die Regel, dass nur alle vier bis sechs Wochen der Zuckerspiegel im Blut oder Urin gemessen wurde. Die Spritzen mussten ausgekocht und die Kanülen regelmäßig geschliffen werden. Sich Insulin zu spritzen, tat weh.
Diät als Grundpfeiler der Diabetesbehandlung in der DDR
Jochem Stachula, heute Leiter einer Selbsthilfegruppe in Jena, erkrankte als Erwachsener 1980. Er gehört zu der stetig wachsenden Gruppe der Typ II-Diabetiker. Für ihn war es viel schwerer, denn er bekam wenig Informationen über den richtigen Umgang mit seiner Erkrankung. Auch in den 1980er-Jahren galt in der DDR die Diät noch als der richtige Weg. Stachula versuchte vor allem, wenig Süßes zu essen. Er erinnert sich noch daran, wie "Ernährungssünden", etwa zu viel Kuchen auf einer Feier, mit tagelangem Sauerkrautessen ausgeglichen wurden. Damals glaubte man, das helfe. Er bekam kein Insulin, sondern Medikamente in Tabletten, die den Blutzuckerspiegel senkten. Diese Medikamente waren seit den 1950er-Jahren verfügbar. Laut des Zentralen Diabetesregisters der DDR wurden 40 Prozent der Typ-2-Diabetiker mit solchen oralen Medikamenten behandelt, immerhin 40 Prozent nur mit Diät und lediglich 20 Prozent mit Insulin. Für die Typ-1-Diabetiker sind Medikamente oder Diät keine Option, ihnen hilft nur Insulin.
Das Zentralinstitut für Diabetes in Karlsburg war in der Bundesrepublik gut bekannt. Die Kollegen kamen zu Kongressen und sahen die Vorteile der zentralen Behandlung der Diabetespatienten, die dadurch immer in den Händen von Spezialisten waren. Zuckertests gehörten in der DDR zu den flächendeckenden Routineuntersuchungen, denn der im Laufe des Lebens erworbene Diabetes Typ 2 verläuft sehr lange ohne spürbare Symptome.
Auch heute noch finden in Karlsburg Schulungen für Kinder mit Diabetes statt. Ein wichtiger Aspekt ist die sozial-emotionale Komponente: zu erleben, dass man mit seiner Besonderheit kein Einzelfall ist. Die Klinik Karlsburg ist kein reines Diabeteszentrum mehr, sondern die wichtigste Herzklinik im Norden der ehemaligen DDR. Aber es gibt hier noch immer das Institut für Diabetes "Gerhardt Katsch", als außeruniversitäre Forschungseinrichtung der Universität Greifswald.
Ab den 90er-Jahren begann die Digitalisierung in der Medizin auch das Leben von Diabetikern zu verändern. Das Piksen vor jeder Mahlzeit gehört heute der Vergangenheit an. Sensoren unter der Haut messen den Blutzuckerspiegel und senden die Daten an eine App. Gegessen werden kann alles, mit Blick auf den Bedarf des Körpers. Somit gehört eine gesunde, vorausschauende Ernährung immer noch zum wichtigsten Werkzeug der Betroffenen.
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: MDR Zeitreise | 20. September 2020 | 22:20 Uhr
Der Artikel war erstmals im März 2021 online.