Selbstbestimmt - Die Reportage | 15.12.2019 Ziemlich hohe Hürden - Jobsuche mit Handicap
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30. November 2023, 10:53 Uhr
Arbeit und berufliche Teilhabe sind für Menschen mit Behinderungen wichtig für ihre Gleichberechtigung, ihre gesellschaftliche Akzeptanz und für ihr Selbstverständnis. Von den bundesweit sinkenden Arbeitslosenzahlen profitieren Menschen mit Behinderung noch immer zu wenig. Doch es gibt Wege!
Jeanette Schmidt ist ausgebildete Bankkauffrau und sehbehindert. Vor über einem Jahr verlor sie ihre Arbeit. Danach fand die Mittvierzigerin keine neue Beschäftigung, kassierte bei ihren Bewerbungen stets Absagen.
Auf eigene Kosten leben, nicht mehr vom Amt abhängig sein, den Kindern beweisen, es geht auch, wenn man Einschränkungen hat - das ist schon was.
Auch André Melchert findet seit langer Zeit keine Arbeit, obwohl er über einen Berufsabschluss als Bürohelfer verfügt. Beide sind hoch motiviert und suchen eine Vollzeitstelle. Doch sie sind schwerbehindert. So wie Carola Neu aus Stendal, die wegen eines Hüftschadens Probleme hat, einen Job zu finden. Viele potenzielle Arbeitgeber stellen Menschen mit Behinderung nicht ein, aus Vorsicht oder Unkenntnis. Sie scheuen vermeintliche Kosten für Umbauten oder Zusatzleistungen. Es gibt Berührungsängste und falsche Vorstellungen.
Die Arbeitsagenturen kennen diese Vorurteile und Bedenken:
Manche Arbeitgeber denken beispielsweise, Menschen mit Beeinträchtigungen, anerkannte Schwerbehinderte hätten einen besonderen Kündigungsschutz, so dass sie sie nicht mehr 'loswerden', wenn es dem Unternehmen mal schlecht geht. Häufig denken Arbeitgeber auch, Menschen mit Beeinträchtigungen hätten besondere Ausfallzeiten. Das Gegenteil ist eigentlich bekannt.
Gute Gründe auf Anstellung
Die Arbeitslosigkeit geht immer noch bundesweit zurück, Fachkräfte werden inzwischen händeringend gesucht. Menschen mit Behinderung profitieren zu wenig von dieser Entwicklung. Die Quote fiel seit April 2017 binnen Jahresfrist allgemein um 7,2 Prozent, bei Arbeitnehmern mit Handicap nur um 3,3 Prozent. Kay Senius von der Regionaldirektion der BA Sachsen-Anhalt - Thüringen weiß, dass Betriebe nicht selten eher Strafzahlungen in Kauf nehmen, als Behinderte zu beschäftigen. Die vorgeschriebene Quote von fünf Prozent werde nur in vier Bundesländern erreichet. Sachsen-Anhalt sei das Schlusslicht.
Gerade in einer Zeit, wo wir das allgemeine Risiko des Fachkräftebedarfs haben, muss - glaube ich - noch einmal vergegenwärtigt werden, dass arbeitslose Schwerbehinderte häufig über ein höheres Qualifikationsniveau verfügen. Das heißt, es gibt viele gute Gründe, schwerbehinderten Menschen eine Integrationschance durch Arbeit zu geben.
Dafür macht sich auch die Berliner Interessenvertretung "Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V." stark genauso wie die Bundesarbeitsagentur Sachsen-Anhalt-Thüringen. Sie versuchen, Menschen mit Behinderung wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen: Mit speziellen Trainingsprogrammen und indem sie Gespräche zwischen Betroffenen und potentiellen Arbeitgebern anbahnen.
So veranstaltet der Verein "Selbstbestimmt Leben" seit zwei Jahren das so genannte Job-Speed-Dating, die Teilnehmer haben die Möglichkeit, sich kurz den etwaigen Interessenten vorzustellen. Darunter sind auch große Unternehmen wie die Deutsche Bahn - Zeitarbeit, Bezirksämter oder der Rechnungshof. Neben dem Coaching der Arbeitssuchenden steht für den Verein also der direkte Kontakt im Vordergrund:
Wir haben über 100 Unternehmen direkt angesprochen. Nicht einfach nur kalt angeschrieben, sondern über die Schwerbehindertenvertretung oder die Personalabteilung. Das heißt: anrufen, Klinkenputzen. Zwölf oder dreizehn haben dann Interesse gezeigt und acht sind jetzt mit dabei.
Was in Berlin funktioniert, sieht in Sachsen-Anhalt ganz anders aus: Hier wird die Beschäftigungsquote von Schwerbehinderten nur zu 3,5 Prozent erfüllt. In keinem anderen Bundesland ist die Quote so niedrig und das bereits seit Jahren. Spitzenreiter ist Berlin mit einer Quote von 5,4 Prozent. Das hängt mit großen Betrieben aber auch Bundesbehörden zusammen, die viele geeignete Arbeitsplätze bieten. Auch ein gut ausgebautes ÖPNV-Netz ist wichtig:
Menschen mit Behinderung sind häufig auf öffentliche Verkehrsverbindungen angewiesen. Wir haben im Großraum Berlin natürlich ein ganz anderes ÖPNV-Netz als beispielsweise im ländlichen Raum in Sachsen-Anhalt. Auch das erklärt, warum die Beschäftigungsquote in Berlin deutlich höher ist als in Sachsen-Anhalt.
Die Hürden auf dem Weg zu einer Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt sind also ziemlich hoch. Mit Unterstützung ist es leichter, sie zu nehmen. Carola Neu aus Stendal arbeitet trotz Hüftschadens jetzt stundenweise als Serviererin und bessert ihr Hartz 4 auf. Andre Melchert hat im zweiten Anlauf eine Stelle als Hauswirtschaftshelfer auf einer Dialysestation gefunden. Jeanette Schmidt aber wartet noch immer auf positive Rückmeldungen auf ihre Bewerbungen.
Stichwort: Schwerbehinderung Als schwerbehindert gelten Menschen, die einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 oder mehr haben. Dieser wird vom jeweiligen Versorgungsamt festgestellt. Menschen mit einem Grad der Behinderung zwischen 30 und 50 können von der Agentur für Arbeit schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | selbstbestimmt! | 16. Dezember 2018 | 08:00 Uhr