Reportage Anna und die Stimmen im Kopf – Leben mit Schizophrenie
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17. Dezember 2024, 14:00 Uhr
Anna Kunze wächst in einem kleinen Dorf nahe Zwickau auf. Die Familie lebt in drei Generationen unter einem Dach. Dort hört sie mit 16 Jahren das erste Mal Stimmen, obwohl niemand außer ihr im Haus ist. Inzwischen liegt eine Odyssee durch Kliniken hinter der Mittzwanzigerin. Über ihr Leben mit der Schizophrenie schreibt sie in einem Blog. Dort teilt sie ihre Erfahrungen mit Betroffenen und jungen Leuten. Auch, um gegen das Stigma anzukämpfen, das diese Erkrankung noch immer bedeutet.
Anna Kunze hat Schizophrenie. Die Dresdnerin gehört damit zu den rund 500.000 Menschen in Deutschland, die von der Krankheit betroffen sind. Bis die Diagnose gestellt wird, vergehen im Schnitt fünf Jahre. Dass sich Wahrnehmung und Realität voneinander trennen, erlebt Anna Kunze das erste Mal mit 16 Jahren. Sie putzt wie immer mittwochs das Bad, als sie eine Stimme laut "Anna" rufen hört. Doch außer ihr ist niemand im Haus.
Gejagt von Stimmen und Erscheinungen
Es ist eine Frauenstimme: "Anna, Du bist böse, Du bist hässlich, Du kannst nichts! Solch gemeine Dinge sagt mir meine Stimme im Kopf. Ich habe sie Eva getauft", erzählt die Mittzwanzigerin. Manchmal mischt sich noch ein Mann mit ein, den sie Demian nennt:
Ich habe gelernt, beide Stimmen zu akzeptieren. Ich gehe mit ihnen in Zwiesprache. Das ist nicht immer leicht.
Stichwort Schizophrenie
Rund 500.000 Menschen leben in Deutschland mit der Diagnose Schizophrenie. Zu den Hauptsymptomen gehörten akustische oder optische Halluzinationen, Wahnideen, Gedanken, die nicht der Realität entsprechen, Störungen der Ich-Wahrnehmung. Betroffene haben das Gefühl, andere könnten Ihre Gedanken lesen oder Besitz von Ihrer Persönlichkeit ergreifen. Wirklichkeit und Wahrnehmung spalten sich, nicht aber die Persönlichkeit.
Zwischen Ausbruch und Diagnose liegen im Schnitt fünf Jahre. Wichtig ist, möglichst früh zu intervenieren und sich ärztliche Hilfe zu holen. Betroffene und deren Angehörige finden Wegweiser zu Selbsthilfe und Versorgung bei NAKOS, der Nationalen Kontakt und Informationsstelle. Aufklärung leistet auch das Schulprojekt "Verrückt? Na und!", vor dem Hintergrund, dass 75 Prozent aller psychischen Erkrankungen vor dem 24. Lebensjahr ausbrechen. Eines der größten Hindernisse, Hilfe bei psychischen Problemen zu suchen und in Anspruch zu nehmen, ist die Angst vor Stigmatisierung, weil die persönliche und berufliche Zukunft in Frage steht.
Die Krankheit kündigte sich in der Jugend an
Schon zwei Jahre zuvor scheint sich die Krankheit anzukündigen. Als sie 2009 nach den Herbstferien zurück in die Klasse kommt, fühlt sie sich gemieden und gemobbt. Dann stirbt ihre geliebte Großmutter, mit der sie über alles reden konnte. Sie erinnert sich, wie sie damals immer mehr den Halt verliert. Sie beginnt, sich selbst zu verletzen, was zunächst unbemerkt bleibt. Doch dann versucht sie, sich das Leben zu nehmen. So kommt sie als 14-Jährige das erste Mal in die Psychiatrie, wo sie wegen Depressionen behandelt wird.
Was folgt, ist eine Odyssee durch Kliniken. Trotzdem meistert Anna ihr Abitur und zieht für ein Sozialpädagogikstudium von Zwickau nach Dresden. Sie muss es wegen der Stimmen im Kopf jedoch abbrechen. Außerdem halten erste optische Halluzinationen sie nachts wach. Vor dem Fenster und in der Wohnung sieht sie "Schattenmenschen, Gebilde aus schwarzem Rauch." Es kommt zum totalen Zusammenbruch. Mit 19 Jahren erfährt sie schließlich, dass sie an Schizophrenie leidet. "Ich benutze das Wort 'leiden'", sagt sie, "weil es wirklich nichts Schönes oder Angenehmes ist."
Das Problem an der Sache ist, dass man selbst nicht weiß, dass man krank ist. Man denkt, alle belügen einen, alle stecken hinter einer Verschwörung oder wollen einem schaden, einen in den Selbstmord treiben. Das ist schon bedrohlich und macht Angst.
Ankämpfen gegen das Stigma
Laut Krankenkasse ist Anna Kunze ein Pflegefall. Weil sie für die Rente zu jung ist, lebt sie von Pflegegeld. Doch sie will sich der Krankheit nicht einfach ergeben. 2015 geht sie damit an die Öffentlichkeit, indem sie über ihre seelischen Krisen bloggt. Anfangs schreibt sie eher für ihre Eltern, ihre drei Geschwister und Bekannte, die ihr Verhalten während psychotischer Zustände so besser verstehen sollen. Doch ihre Erzählungen treffen offenbar einen Nerv. Über eine Million Menschen, vor allem Betroffene und deren Angehörige, klicken die Seite an und reagieren auf ihre Einträge.
Sie schreibt auch, damit möglichst viele Menschen wissen, was eine Schizophrenie ist und gegen das Stigma, mit dem die Krankheit behaftet ist:
Jeder Mensch kann daran erkranken, manche trifft es nur einmal, manche mehrmals im Leben, andere chronisch. Es bedeutet nicht, geistig behindert zu sein, aber seelisch.
Hilfe zur Selbsthilfe: "Seid achtsam und wertschätzend!"
In ihrem Blog schreibt sie, dass sie sich während der Zeit ihrer schwersten Krise, die sie für acht Monate in die Klinik brachte, eine Genesungsbegleiterin gewünscht hätte: Um sie über ihre Krankheit aufzuklären, ihr und ihrer Familie Ängste zu nehmen, damit sie durchhalten kann in der Gewissheit, dass es wieder besser wird. Mut machen Anna damals vor allem Gespräche mit Mitpatienten. Aus dieser Erfahrung heraus beginnt sie später, sich ehrenamtlich im Selbsthilfenetzwerk für seelische Gesundheit und bei EX-IN LV Sachsen e.V. zu engagieren.
2018 wagt sie einen weiteren Schritt: Sie geht für das Projekt "Verrückt? Na und!" in Schulklassen und spricht darüber, was es bedeutet, schizophren zu sein. Da seelische Erkrankungen sehr häufig im Teenager-Alter beginnen, arbeitet Anna vor allem in 8. und 9. Klassen. Sie erzählt, wie sie das Mobbing in der Schule schließlich verzweifeln ließ. So will sie vermitteln, wie wichtig es ist, achtsam und wertschätzend zu sein, auf sich selbst und auf andere zu achten, in einer verzweifelten Situation jemanden zum Reden zu finden und sich klar zu werden, was einen immer wieder aufbauen kann, "so wie man einen Notfallkoffer im Auto hat, wenn ein Unfall passiert".
Projekt "Verrückt? Na und!"
Irrsinnig Menschlich e.V., gegründet 2000 von Dr. Manuela Richter-Werling und dem Psychiater und Stigmaforscher Prof. Matthias C. Angermeyer, will über seelische Erkrankungen informieren und so Vorurteile abbauen. Richter-Werlings Antrieb war die Hilf- und Sprachlosigkeit in der Familie, als ihr Bruder in der Schulzeit seelisch erkrankte. * Aus der Erkenntnis heraus, dass Stigmatisierung einer der schwerwiegendsten Gründe für Betroffene ist, rechtzeitig Hilfe zu suchen, selbst wenn es wirksame Behandlungsmöglichkeiten gibt. * Die Mehrheit aller seelischen Erkrankungen beginnt vor dem 20. Lebensjahr, in einer Zeit, die für eine gute Entwicklung insgesamt wichtig ist. * Deswegen geht der Verein mit dem Projekt "Verrückt? Na und!" auch in Schulen, um seelische Gesundheit zum Thema zu machen, mit dem Ziel über Erkrankungen aufzuklären und Auswege aus seelischen Krisen zu vermitteln. Und das nicht nur durch Fachexperten, sondern auch Menschen, die seelische Krisen bewältigt haben. * Sachsenweit gibt es inzwischen drei Regionalgruppen, dazu kommen weitere in Thüringen und Sachsen-Anhalt. Rund 70 Regionalgruppen gibt es bundesweit, auch in Tschechien, der Slowakei und Österreich machte das Projekt Schule.
Schritte in die Unabhängigkeit
Zu einem selbstständigen Leben gehört für Anna Kunze, sich frei bewegen können: "Mobil zu sein ist für mich ein Schritt in die sogenannte Normalität", sagt sie. Deswegen will sie, die ärztliche Erlaubnis vorausgesetzt, ihre Fahrprüfung absolvieren. Den theoretischen Teil schafft sie, dann nimmt sie die ersten Fahrstunden. Danach schreien die Stimmen in ihrem Kopf lauter als sonst. Sie will fast aufgeben. Doch ihr Lehrer André Kunz motiviert sie, weiterzumachen. Dabei helfen ihr Musikmeditation und Malen.
Nie die "Löffelliste" vergessen
Mit dem Malen beginnt sie während eines Klinikaufenthaltes: "Ich versuche, die Ängste und die Bilder, die ich sehe, auszudrücken. Mit Worten kann man die Krankheit nicht gänzlich fassen, weil es so surreal ist. Indem ich mich zeichnerisch ausdrücke, kann ich meine Welt denjenigen zeigen, die versuchen wollen, es zu verstehen." Einige ihrer Werke stellt sie online. So wird Peter Löwe, der im brandenburgischen Goyatz eine kleine Galerie für jedermann betreibt, auf sie aufmerksam und lädt sie zu ihrer ersten Ausstellung ein, zu der sie nach bestandener Fahrprüfung im eigenen Auto anreist. Mit der Eröffnung wartet sie, bis ihre Eltern eingetroffen sind.
Ihre Mutter Birgit Kunze erzählt, dass sie damals, als die Krankheit auszubrechen begann, nicht realisierte, was los war, um schließlich sehr harte Zeiten zu durchleben: "Auf die Frage nach Helden sage ich immer: Meine Tochter Anna ist eine, weil sie so viel Kraft hat." Die Familie weiß, wie unberechenbar die Schizophrenie ist. Aber Anna selbst weiß auch, was ihr Kraft gibt, zum Beispiel Gespräche mit vertrauten Menschen, ihr dreibeiniger Kater Nathan, der sie manchmal über den Tag rettet, ihre Kreativität, die Natur und ihre "Löffelliste". Geschrieben hat sie sie nach ihrem zweiten Suizidversuch. Sie hat sie immer dabei, um sich an die schönen Dinge zu erinnern, die sie noch machen möchte.
Hilfsangebote
• Info-Telefon Depression: 0800 / 33 44 533 (werktags je 4 Stunden erreichbar), rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter der kostenlosen Rufnummer 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222
• ein Selbsttest, Wissen und Adressen rund um das Thema Depression auf www.deutsche-depressionshilfe.de
• Sozialpsychiatrische Dienste bei den Gesundheitsämtern
• im akuten Notfall im Krankenhaus vorstellen oder den Notarzt unter 112 rufen
• Der Verein AGUS unterstützt Angehörige nach Suizid durch Beratung, Betreuung und Vermittlung von Kontakten Betroffener www.agus.de
Reportage aus dem Jahr 2019
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 15. Dezember 2024 | 08:00 Uhr