NORMsprenger:in Bin ich ein guter Mensch? — Das Streben und Leiden der Generation Awareness
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22. Juli 2021, 04:13 Uhr
Bewusstsein für politische Missstände und Diskriminierungen hat das selbstreflexive Erleben einer ganzen Generation verändert und sie sensibler gemacht. Mit Erfolg: Maginalisierte Gruppen werden sichtbarer. Doch der Zeitgeist erzeugt auch Druck. Über Streben und Leiden der Generation Awareness dachte Julian Theilen gemeinsam mit Sorry3000-Frontfrau Stefanie Heartmann, Medizinstudentin Hannah Umutoni Mugaragu und Autor Max Deibert nach.
Stefanie Heartmann hört gerne Michael Jackson. Puh, so, jetzt ist es raus. Und ja, Stefanie hat sich auch gewunden und beschämt zu Boden geguckt, als sie das gesagt hat.
Du liebst mich nicht, weil ich nicht politisch bin.
Während sich manche nun fragen, wo das Problem liegen soll (außer vielleicht im Musikalischen), wenden sich andere von ihr ab. Für die, die sich nicht vorstellen können, warum sich Stefanie schämt: Michael Jackson, der King of Pop, hat wohl, so werfen es ihm mehrere Zeugen vor, über Jahre hinweg auf seiner Neverland Ranch Kinder sexuell missbraucht. Wenn Stefanie nun trotzdem weiter gerne seine Musik hört, geht sie nicht auf Distanz, was die Taten relativiert — so empfinden es jedenfalls diejenigen, die auf "Awareness", zu übersetzen etwa mit Bewusstsein oder Bewusstheit, bestehen.
Selbstreflexion als oberste Prämisse
Kritiker:innen stempeln das Konzept gelegentlich als elitär und verkopft ab. Befürworter:innen wiederum würden genau diese Kritik daran als ignorant bezeichnen und argumentieren, dass Awareness vielmehr unterschiedliche Reflexionsebenen schonungslos offen lege.
Dass das Individuum zur Verantwortung gezogen wird, sich zu den Missständen der Welt verhalten soll, ist einer der Kernpunkte von Awareness, die ihre Verfechter:innen zu ständiger Selbstreflexion und folgenden Fragen drängt:
Bin ich rassistisch, wenn ich eine schwarze Frau frage, woher sie kommt? Reproduziere ich sexistische Wirklichkeit bzw. männliche Dominanz, wenn ich immer nur von Lehrern spreche und nicht von Lehrer:innen? Sollte ich mit Blick auf das Klima noch in die Karibik fliegen oder lieber mit der Bahn an die Ostsee reisen?
Wenn ein Song sexistische Textzeilen hat, sollte man ihn nicht mehr hören.
Hinter dieser Reflexionsspirale steht auch ein Versprechen: Wenn ich nur genug an mir arbeite, trage ich zu einer besseren Welt bei. Dieses Versprechen ist verlockend und scheint sich auch einzulösen. Schwarzen Menschen wird nicht mehr implizit abgesprochen, deutsch sein zu können. Das weibliche Geschlecht erfährt immer mehr auch in der öffentlichen Sprache Sichtbarkeit und damit Würdigung. Und vielleicht können wir es schaffen, dass nachfolgende Generationen von noch mehr Waldbränden und Trinkwassermangel verschont bleiben, wenn wir uns alle besinnen.
Stichwort: Awareness
Awareness bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie Bewusstheit, Bewusstsein. Wer "aware" ist, reflektiert demnach seine Privilegien als weißer Mann, erwähnt bei Aufzählungen etwa von Berufsgruppen auch die weibliche Form oder achtet darauf, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Diskurs sichtbar werden. Das Konzept hinter diesem politischen Aktivismus kommt maßgeblich aus den USA. Begrifflichkeiten wie "toxic masculinity" (toxische Männlichkeit), "guilty pleasure" (sündhaftes Vergnügen) und "check your privilege" (Überprüf deine Privilegien) verdeutlichen das.
Woran sich Awareness-Diskussionen entzünden
Sollten Männer in der Öffentlichkeit noch oberkörperfrei rumlaufen? Oder ist das unsolidarisch? Schließlich ist der Oberkörper von Frauen viel sexualisierter, weswegen es für sie schwerer ist, es auch zu tun.
Sollten Filme mit dem Schauspieler Kevin Spacey boykottiert werden, weil er mehrfach junge Männer sexuell missbraucht haben soll?
Sollte man Menschen, die offensichtlich einen Migrationshintergrund haben, wirklich fragen, woher sie kommen oder unterstellt das bereits, dass sie ja nicht "von hier", also aus Deutschland, sein können?
Sollten auch übergewichtige Menschen viel öfter in Modekatalogen zu sehen sein, um das Schönheitsideal aufzubrechen?
Awareness ist richtig und wichtig — eine Abkehr deshalb schwierig
Und doch gibt es eine Crux: Awareness ist richtig und wichtig. Man kann daraus nicht einfach aussteigen wollen wie aus dem Selbstoptimierungskarussel, das sich beispielsweise in wahnhaften Fitnesseinheiten zeigt. Da kann ein wohlwollender Freund sagen: "Lass das, dein Wert hängt nicht davon ab, wie durchtrainiert du bist." Awareness aber ist unmittelbar mit der Moral-Frage verknüpft, hier lässt sich nicht so leicht sagen: "Es ist nicht so schlimm, dass du rassistische und sexistische Weltbilder in dir trägst." Awareness stellt so unmittelbar die Frage: "Bist du ein guter Mensch?"
Einige politische Aktivistinnen und Aktivisten haben diese Bedrohung für das eigene Selbstbild wohl schon erkannt, sie sprechen nun manchmal abmildernd davon, dass wir ja alle irgendwie Rassist:innen" sind oder "alle unsere kleinen Klimasünden haben". Manchmal wird sogar mit kleinen Verfehlungen kokettiert. Schaut jemand gerne Trash-TV, weil es eben manchmal gut tun kann, sich über andere lustig zu machen, dann wird dies als "guilty pleasure" ("sündhaftes Vergnügen") bezeichnet. Wichtig scheint hier in jedem Fall zu sein, dass man sich dieser Schuld bewusst ist, das wirkt strafmildernd.
Second-Hand-Läden mit Wühltischen sind nichts für mich.
Anti-Rassismus-Schulungen und "Blackfacing"-Verbot: Unternehmen ziehen nach
Das Hauptwirkungsfeld von Diskussionen über Awareness sind die Sozialen Medien. Zur "Black Lives Matter"- Bewegung gehört es zum Beispiel auch, dass Instagram- und Twitter-Nutzer unter #whiteprivilege ihre weißen Privilegien reflektieren. Marginalisierte Gruppen wie People of Colour, Transsexuelle, Menschen mit Behinderung oder Übergewicht berichten hier über Alltagsdiskriminierungen und bitten um mehr Sensibilität.
Darauf reagieren auch Institutionen und Unternehmen: Die Kaffeehauskette Starbucks verpflichtete 2018 alle Mitarbeiter:innen zu einer Anti-Rassismus-Schulung, die Stadtverwaltung Hannover setzt seit 2019 auf geschlechtergerechte Sprache und Facebook verbot in diesem Jahr Fotos mit "Blackfacing", also die Darstellung schwarzer Menschen durch geschminkte Weiße.