Reportage Dienst an der Grenze: Erinnerungen aus Ost und West
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10. September 2024, 04:00 Uhr
Sie sitzen am Lagerfeuer, trinken Bier und schwelgen in Erinnerungen: Männer, die bei den Grenztruppen der Nationalen Volksarmee (NVA) gedient haben. Bei regelmäßigen Treffen lebt die Kameradschaft wieder auf. Hier geht es nicht um Todesschüsse und politische Willkür, sondern um Zusammenhalt und Abenteuer. Das gilt auch noch über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Doch das ist nicht überall so.
Mirko Busch trägt eine olivfarbene Jacke mit grauem Gürtel und Schulterklappen, dazu eine Offiziersmütze mit dem Wappen der Nationalen Volksarmee (NVA). Das war die Uniform der DDR-Streitkräfte. Zwischen 1979 und 1981 bewachte er als Unteroffizier die die deutsch-deutsche Grenze. Eine Waffe zu tragen gehörte zu seinem Berufsalltag, einsetzen musste er sie aber nicht:
Ich kenne niemanden, der wie ein Cowboy an der Grenze gestanden und darauf gewartet hat, dass jemand kommt, den er abknallen kann. Ich kenne auch niemanden, der schießen musste. Gott sei Dank, sage ich heute. Damals hätte ich meinen Schießbefehl wahrscheinlich erfüllt.
Grenzerinnerungen am Lagerfeuer
Regelmäßig trifft sich Mirko Busch mit anderen Männern, die in der DDR an der innerdeutschen Grenze gedient haben. Gemeinsam verbringen sie ein Wochenende zum Beispiel in Arendsee in Sachsen-Anhalt in einer früheren Grenzer-Kaserne, die heute ein Hotel ist. Bei Bier und Rostbratwurst erinnern sich die Männer an ihre Zeit bei der NVA. Auch ihre Partnerinnen und Ehefrauen sind dabei:
Man kann es mit einem Ferienlager vergleichen, obwohl die Männer damals natürlich zum Grenzdienst gingen und die Kinder zum Spielen.
Deutsch-deutsche Versöhnung
Ortswechsel. Auch in Abbennrode im Nordharz treffen sich regelmäßig Männer, die an der Grenze dienten. Sie kommen aus Ost- und aus Westdeutschland. Wolfgang Roehl hat für den Bundesgrenzschutz gearbeitet. Er erinnert sich, dass die erste Begegnung vor sieben Jahren von gegenseitiger Zurückhaltung und großer Neugier geprägt gewesen ist.
Auf der ostdeutscher Seite diente Andreas Weihe von 1980 bis 1983 an der Berliner Mauer:
In Abbenrode ist man sich darüber einig, die Geschichte der Grenze aufzuarbeiten und dabei auch das Leid und die Ängste von damals nicht auszuklammern. Eine Ausstellung im Heimatmuseum versucht das zu dokumentieren. Und "damit die Jugend nicht vergisst, gibt es den Heimatverein und den Grenzerkreis", sagt Andreas Weihe.
Die Grenze als Zufluchtsort
Zu Abbenrode gehört auch die Geschichte von Olivia Hoffmann. Sie ist direkt an der Grenze auf westdeutscher Seite aufgewachsen. Zwischen 1982 und 1984 versteckt sie sich als junges Mädchen regelmäßig im sogenannten vorgelagerten Hoheitsgebiet der DDR. Sie flüchtet vor Gewalt und Mobbing. Im Grenzgebiet, wo andere Menschen sterben, fühlt sie sich sicher:
Es hat sich sonst keiner ins Grenzgebiet getraut. So unglaublich wie es ist: Ich fühlte mich dort sicher.
Doch auf beiden Seiten beobachteten die Grenzer Olivia Hoffmann misstrauisch, fotografieren sie und verfolgen jeden ihrer Schritte mit Argwohn.
Die innerdeutsche Grenze: ein Todesstreifen mit 1.400 Kilometer Stacheldraht, Mienen und Selbstschussanlagen. Auf beiden Seiten haben Menschen eine wichtige Zeit ihres Lebens verbracht, die sie nicht mehr loslässt. Es geht um gute und schlechte Erinnerungen, um Heimat, Überzeugung und Ehrlichkeit.
Reportage vom Oktober 2020
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 12. September 2024 | 22:40 Uhr