Umweltminoisterin Anja Siegesmund , Pressekonferenz der Landesgeschäftsstelle
Am 31. Januar ist Siegesmunds letzter Arbeitstag als Ministerin. Bildrechte: IMAGO/Christian Fischer

Wechsel in die Wirtschaft Rückenwind aus Berlin oder Stoppschild aus Thüringen: Wie geht es für Anja Siegesmund weiter?

31. Januar 2023, 15:57 Uhr

Nach acht Jahren hat die grüne Thüringer Umweltministerin am Dienstag ihr Amt niedergelegt. Dass sie es aus persönlichen Gründen tat und sich jetzt auf die Familie konzentrieren will, hielten viele lange für die halbe Wahrheit.

Nein. Ein Interview gibt Anja Siegesmund MDR THÜRINGEN kurz vor ihrem Rücktritt nicht mehr. Nicht mit und nicht ohne Kamera möchte sie von uns befragt werden. Auch nicht gemeinsam mit dem Landeskorrespondenten von MDR AKTUELL, der zunächst eine Zusage bekommt. Dieses Interview sagt sie schließlich auch ab - ganz kurz, bevor es geführt werden soll.

So bleibt uns MDR-Journalisten, die Antwort auf wichtige Fragen in einem Interview zu lesen, das die Zeitungen von "Funke Medien" mit ihr führen konnten und das am Montag erschien: Ja, sie hat ein Job-Angebot des Bundesverbandes der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft BDE. Und andere Angebote. Ihre Auszeit, die am 1. Februar beginnt, dauert mindestens bis zum Herbst.

Spärliche Auskünfte und keine Bestätigung

Eine offizielle Bestätigung für das, was seit Wochen gemunkelt wird, bekommt MDR THÜRINGEN nicht: Dass der BDE Siegesmund als geschäftsführende Präsidentin haben möchte. Die Redaktion erfährt nur: Der jetzige Amtsinhaber Peter Kurth ist bis 30. September 2023 gewählt. Wer immer nachfolgt, wäre ab 1. Oktober 2023 gefragt. Derzeit laufe ein Auswahlverfahren.

Entscheiden werde die Mitgliederversammlung am 25. Mai 2023, so Pressesprecher Bernhard Schodrowski. Es ist die Wiederholung einer bereits mehrfach versendeten Standardantwort. Wie wird entschieden, wen die Findungskommission einlädt? Keine Angaben. Wer sitzt drin in dem Gremium? Keine Antwort. Nach welchen Kriterien wird entschieden? Schweigen.

Verband mit starker Stimme

Der 1961 gegründete BDE ist ein Arbeitgeberverband und gilt als die stärkste Interessenvertretung der Branche, mit Sitz in Berlin und Büro in Brüssel. Landessprecherin für Thüringen ist Susanne Pollter. Sie ist eine von zwei Geschäftsführern der Max Aicher Umwelt GmbH und sitzt in Döllnitz bei Halle. Die Firma ist nach eigenen Angaben Gesellschafterin der Versatzbergwerke Bleicherode und Sollstedt in Nordthüringen und entsorgt dort sogenannte anorganisch-mineralische Reststoffe.

Wir fragen nach, wie sie und ihre Kollegen in der Branche in Thüringen den möglichen Wechsel von Siegesmund an die Verbandsspitze beurteilen. Pollter bittet um Verständnis: Sie sitze weder im Präsidium noch im Vorstand. Dass Siegesmund das Angebot des BDE bestätigt, habe sie überrascht. Bewerten könne sie nichts, solange die Findungskommission aus Mitgliedern des Vorstands ihre Arbeit nicht bis zu Ende gemacht und die Mitgliederversammlung entscheiden habe.

Nachteile eines intransparenten Übergangs

Ein Monopol hat der BDE nicht. Und in Thüringen scheint der parallel arbeitende Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung aktiver zu sein. Zu den Mitgliedern im Freistaat gehört die Mitteldeutsche Recycling GmbH Mühlhausen. Geschäftsführer Heiko Sagert zögert auf Anfrage von MDR THÜRINGEN mit einem Statement. Er habe Siegesmund im Umfeld des Verbandes bei Fragen rund um die Entsorgungsbranche nicht wahrgenommen und nie mit ihr zu tun gehabt. Grundsätzlich gehe für ihn aber Verbandsarbeit nicht mit Politik zusammen.

Beim Wechsel von Politikern in die Wirtschaft stelle sich immer die Frage: Wurden während der Amtszeit schon Entscheidungen getroffen mit dem Wissen, dass man später wechselt? Das habe immer einen Beigeschmack - ganz unabhängig von konkreten Personen.

Vorteile eines Erfahrungsschatzes aus Amtszeit

Eine andere Stimme aus der Branche sagt das Gegenteil. Das Unternehmen Thüringen-Recycling mit seinen 300 Mitarbeitern ist in beiden Verbänden organisiert. Geschäftsführer Lars Kossack sagte am 26. Januar im Interview mit MDR THÜRINGEN: "Von mir aus kann Anja Siegesmund als Umweltministerin aufhören und noch am selben Tag beim Verband anfangen." Er hält eine sogenannte "Stillhaltezeit" für unnötig. Kompetenzen, die man auf der einen Seite sammelt, könne man doch auf der anderen Seite gut für eine ordentliche Arbeit einbringen.

Von mir aus kann Anja Siegesmund als Umweltministerin aufhören und noch am selben Tag beim Verband anfangen.

Lars Kossack Geschäftsführer Thüringen-Recycling

Der Firmenchef versichert, er habe in Siegesmunds Amtszeit keinen Bezug zum operativen Geschäft der Entsorgungsfirmen erlebt. Bei einer Begegnung zum Thema Batterierecycling habe er sie als kompetent, ihre Äußerungen als ausgewogen wahrgenommen. Die Kombination aus ihrer Persönlichkeit und ihren Erfahrungen aus der Amtszeit nennt Kossack spannend. Weiß er mehr über Absprachen zwischen BDE und Siegesmund? Kossack bedauert.

Gezielte Suche in der Politik

In Branchenkreisen außerhalb von Thüringen hatten bereits erste Gerüchte um den Wechsel an die Spitze des BDE offenbar für Überraschung gesorgt. "Anja wer?", habe manches Mitglied gefragt, erfährt MDR THÜRINGEN aus Quellen, die anonym bleiben möchten. Dass sich Peter Kurth als geschäftsführender Präsident am 30. September 2023 nach 15 Jahren verabschieden will, sei seit 2021 bekannt.

Um die Nachfolge habe es lange Zeit keinerlei Aufregung gegeben. Von Agenturen, die Personal aktiv gewinnen, sei immer mal die Rede gewesen. Von einer längeren Liste mit interessanten Personen aus der Politik, etliche davon Abgeordnete in Landtagen oder im Bundestag. Irgendwann dann von einer "Frau von den Grünen". Vor Weihnachten dann der konkrete Name - der habe verunsichert.

Frage nach den nötigen Kompetenzen

Die Verdienste um den Verband, sein nachhaltiges Wirken zum Vorteil für die Branche und die einzelnen Unternehmen - Peter Kurth werde dafür geschätzt, sein Weggang bedauert, heißt es weiter. Was Anja Siegesmund in der Thüringer Umweltpolitik in acht Jahren "gerockt" hat, gehört beim BDE in Berlin offensichtlich nicht zum allgemeinen Kenntnisstand.

Und da, wo das bekannt ist, fragt sich mancher trotzdem: Würde die Frau aus Jena die Art, wie im Verband gedacht wird, aufnehmen können? Wer auch immer nachfolgt, müsse Tagesgeschäft und Interessenvertretung für den Gesamtverband gut verbinden - als geschäftsführende Präsidentin oder Präsident. Anja Siegesmund in dieser Position - für viele Mitglieder ergebe sich da noch kein Bild, heißt es aus der Branche.

Landesregierung über Job-Perspektive informiert

Gespräche, Angebote, Auswahlverfahren - zumindest hat sich Anja Siegesmund schon bei der Thüringer Staatskanzlei gemeldet. "Es liegt … eine Mitteilung von Frau Siegesmund zur möglichen zukünftigen Erwerbstätigkeit oder sonstigen entgeltlichen Beschäftigung nach dem Ausscheiden aus dem Ministeramt vor. Diese Mitteilung befindet sich in der Prüfung. Über den Inhalt der Mitteilung kann mit Blick auf die Rechte von Frau Siegesmund keine Auskunft geben werden", schreibt die Pressestelle am Montag.

Geht es um den BDE? Oder steckt ein anderes Angebot hinter dieser Anzeige? Um welche Tätigkeit geht es ganz konkret? Bis wann braucht die - ab Mittwoch - Ex-Ministerin eine Entscheidung der Landesregierung? Anja Siegesmund beantwortet keine dieser Fragen. Sie verweist darauf, dass ihr Entscheidungsprozess noch nicht abgeschlossen sei. "Und dass eine Mitteilung an die Thüringer Staatskanzlei mehr als eine Option umfassen kann", lässt sie wissen.

Regeln für Ex-Minister als mögliche Bremse

Dass Siegesmund eine mögliche spätere Tätigkeit außerhalb des öffentlichen Dienstes bei der Landesregierung anzeigen muss, schreibt das Thüringer Ministergesetz seit 2018 vor. Wer innerhalb von 24 Monaten nach dem Ausscheiden aus dem Amt so etwas vorhat, braucht den Segen des Kabinetts. Und das holt sich - so schreibt es das Gesetz vor - Rat beim "beratenden Gremiums nach Paragraph 5 c". Die fünfköpfige Runde befindet darüber, ob es einen Interessenkonflikt gibt zwischen der Tätigkeit im Ministeramt und den Aufgaben im neuen Job.

Heißt die Antwort auf diese Frage "ja", kann das Kabinett entscheiden, dass der ehemalige Minister oder die ehemalige Ministerin erst 18 Monate nach Ende der Amtszeit den neuen Job antreten darf. In schweren Fällen auch erst nach 24 Monaten. Nach Informationen von MDR THÜRINGEN hat die Staatskanzlei das Beratergremium bisher nicht über Siegesmunds Anzeige informiert.

Erwartungen an Thüringens Vorbildfunktion

Wolfgang Jäckle arbeitet bei Transparency International Deutschland für die Arbeitsgruppe "Transparente Verwaltung". Er und seine Kollegen erwarten mit Spannung, was nach Siegesmunds Mitteilung passiert. "Hier kann sich das Thüringer Ministergesetz richtig bewähren", sagt Jäckle und verweist auf den Platz, den Thüringen mit seinen aktuellen Regeln zur politischen Integrität unter den Bundesländern einnimmt: Ganz oben! Wegen der 24 Monate Karenzzeit. Und wegen des unabhängigen Beratergremiums, das er jetzt in der Schlüsselrolle sieht.

Der Thüringer Landtag hatte im Sommer 2019 den Ex-Landtagsabgeordneten Gustav Bergemann (CDU), Ex-Minister und Ex-Landtagspräsident Frank-Michael Pietzsch (CDU), Stefan Werner vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Thüringen, den ehemaligen Thüringer BUND-Vorsitzenden Ron Hoffman und Norman Loeckel von Transparency International Deutschland in dieses Gremium gewählt.

Mehr Zeit und Rechte für unabhängige Berater

Bisher hat das Gremium nur einen Fall auf dem Tisch gehabt: Als Thomas Kemmerich (FDP) im Februar 2020 Thüringer Ministerpräsident wurde, musste besprochen werden, dass er ja gleichzeitig Vorstandsvorsitzender der Friseur Masson AG war. Laut Thüringer Landesverfassung durfte er nicht beides gleichzeitig. Mit seinem Rücktritt nach vier Wochen hatte sich dieses Problem allerdings erledigt. Und darüber hinaus hatte das Beratergremium bisher keine Fälle. Aufmerksamkeit bekommt es jetzt auch ohne Anja Siegesmund.

Paragraf 5 des Thüringer Ministergesetzes ist gerade in der planmäßigen Evaluierung. Das Beratergremium und die Landesregierung haben ihre Wünsche bereits aufgeschrieben: Für die Entscheidung über den Wunsch eines Ex-Kabinettsmitgliedes nach einem Wechsel in die Wirtschaft sollte mehr Zeit zur Verfügung stehen: Mindestens zwei Monate statt wie bisher vorgesehen nur einer. Und das Beratergremium sollte das Recht bekommen, Wechselwillige ausführlich anzuhören.

Parlamentarische Debatte neben Diskussion um Einzelfall

In diesen Tagen haben alle Abgeordneten im Thüringer Landtag diese Änderungsvorschläge auf den Tisch bekommen. Auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Für deren fünf Abgeordnete besonders bitter: Die Debatte darüber fällt nun zusammen mit den Abwägungen um einen möglichen Wechsel von Anja Siegesmund an die Spitze des BDE. Ihrer ehemaligen Fraktionsvorsitzenden. Der Spitzenkandidatin ihrer Partei aus zwei Landtagswahlkämpfen.

2018 waren es die Abgeordneten dieser Fraktion, die noch schärfere Regeln gefordert hatten: 36 Monate Karenzzeit zwischen Regierungsamt und neuer Tätigkeit in der Wirtschaft. So wie Transparency International Deutschland auch. Und die dafür gesorgt haben, dass seit 2019 ein Vertreter diese Organisation im Beratergremium sitzt.

Schwierige Abwägung für die Fraktion

Astrid Rothe-Beinlich als Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Thüringer Landtag erkennt an: Auch ehemalige Minister und Ministerinnen müssen nach ihrer Zeit als Regierungsmitglieder adäquate Chancen im Erwerbsleben bekommen.

Aber sie wiederholt: "Für uns als grüne Fraktion erscheint die in Rede stehende Position beim BDE durchaus problematisch. Wir haben in der letzten Legislatur das Thüringer Ministergesetz maßgeblich mitgeprägt und halten dieses für eine echte Errungenschaft, für die wir Bündnisgrüne lange gekämpft haben. Die Sperrfrist von bis zu 24 Monaten für ausscheidende Minister*innen bis zur Aufnahme einer neuen Tätigkeit in Bereichen, in denen das ehemalige Mitglied der Landesregierung tätig war, ist eine wichtige Maßnahme gegen eigennützigen Lobbyismus und die Möglichkeit der Einflussnahme von Unternehmen auf Exekutive und Legislative. Und diese Regeln müssen natürlich auch für uns gelten." Wie das Beratergremium abwägt und die Landesregierung entscheidet - beides wird veröffentlicht werden.

Potenzial für politischen Schaden im Wahljahr

Anja Siegesmund kommentiert diese Regeln nicht. Sie verweist lediglich darauf. Die einstige Fraktionsvorsitzende war 2018 nicht mehr Abgeordnete, hat über die Verschärfung des Ministergesetzes nicht mitdiskutiert, nicht abgestimmt. Bisher ist unklar, wann das fünfköpfige Beratergremium den Fall aufnimmt. Und als wie eng die fünf Männer die Verbindung einschätzen zwischen den Aufgaben als Ministerin und den Aufgaben als Verbandschefin.

Stopp bis zum 1. August 2024, womöglich bis zum 1. Februar 2025? Oder Go? Wie würde eine mögliche Empfehlung an das Kabinett aussehen? Unbeantwortete Fragen, Konjunktive, Spekulationen. Und eine Entscheidung mit öffentlicher Debatte, die den Thüringer Parteifreunden von Anja Siegesmund im Jahr vor der Landtagswahl schwer wie Blei auf die Füße fallen könnte.

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 31. Januar 2023 | 18:20 Uhr

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