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Psychologin im Interview Warum Mütter ihre Säuglinge töten? - "Es sind Verzweiflungstaten"
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21. Februar 2025, 05:00 Uhr
Dass Mütter ihre Babys töten, sei ein sehr, sehr seltenes Delikt, sagen Psychologen. Doch das Echo in der Öffentlichkeit ist nach jeder Kindstötung enorm. Wieviele derartige Neonatizide es wirklich gibt, wisse keiner, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Kriminalforschung Sachsen in Chemnitz, Aileen Krumma. Warum töten Mütter ihre Babys? Und welche Rolle spielen Vater und soziales Umfeld?
Frage: Wenn eine Säuglingsleiche gefunden wird, ist das Entsetzen groß und man fragt sich: Warum tötet eine Mutter ihr Neugeborenes?
Aileen Krumma: Kindstötung ist ein superkomplexes Delikt. Das bedeutet, dass es ganz viele unterschiedliche Motive geben kann. Es gibt nicht den einen Grund, wieso eine Mutter ihr Kind tötet. Neonatizide (Anmerk. d. Red.: griech. = Neugeborenentötung, Tötung eines Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt) werden oftmals durch eher junge, teilweise überforderte, Mütter begangen, die ungewollt schwanger geworden sind.
Neonatizide folgen dann meist auf eine verdrängte und/oder verheimlichte Schwangerschaft. Das bedeutet: Die Frau will die ungewollte Schwangerschaft, etwa aufgrund von Traumata, nicht wahrhaben und setzt sich nicht mit der Schwangerschaft auseinander. Anzeichen für eine Schwangerschaft werden verdrängt, indem Alternativerklärungen gesucht werden.
Kann eine Frau ihre Schwangerschaft wirklich komplett verdrängen und verheimlichen?
Das funktioniert, ja. Weder der Kindsvater, noch das soziale Umfeld wissen dann davon. In einem solchen Fall hat sich die Mutter bewusst oder unbewusst vom sozialen Umfeld isoliert. Auch eine Uminterpretation der Symptome kann stattfinden. Dabei wird beispielsweise eine Gewichtszunahme durch zu viel Essen erklärt und der Bauch der Schwangeren versucht weitgehend zu verstecken.
Die Frauen haben in solchen Fällen keinen Kontakt zur medizinischen Versorgung. Die Geburt findet daher oft allein statt, etwa im Badezimmer, auf der Toilette oder andernorts. Anschließend wird das Kind, oftmals aus Verzweiflung und Überforderung, getötet, meistens durch Ersticken oder Ertränken. Anschließend wird die Leiche zum Beispiel im Müll, im Wald oder im häuslichen Umfeld entsorgt.
Welche Ursachen kennen Sie für Kindstötungen?
Es gibt nicht den einen Grund dafür. Es sind häufig Verzweiflungstaten aufgrund ungewollter Schwangerschaften, auf die eine Verdrängung oder Verheimlichung der Schwangerschaft folgt. Weitere Ursachen sind Partnerschaftsgewalt oder Drohungen des Partners, auch familiäre Gewalt, Überforderung, Verzweiflung aufgrund finanzieller Nöte oder weil soziale Unterstützung fehlt. Oftmals sind es auch mehrere Ursachen, die zusammenspielen und dazu führen, dass eine Mutter ihr Kind tötet.
Auch psychische Störungen können eine Ursache sein, insbesondere Psychosen und Depressionen. Die psychischen Probleme können schon vor der Schwangerschaft bestehen oder werden durch die ungewollte Schwangerschaft oder Geburt ausgelöst. Bei Psychosen können bei Halluzinationen Stimmen wahrgenommen werden, die der Mutter sagen, das Kind müsse getötet werden - und die Mutter setzt das um.
Eine schwere Depression kann außerdem als Risikofaktor für einen erweiterten Suizid gelten. Das bedeutet, dass die Mutter das Kind und sich selbst tötet, um es vor dem "Elend der Welt" zu bewahren. Eine weitere Ursache kann der Drogen- oder Alkoholmissbrauch sein, der zur Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse führen kann.
Wie häufig kommen Kindstötungen vor? Von 15 bis 40 Fällen pro Jahr ist die Rede, in älteren Studien heißt es, die Dunkelziffer liege viel höher.
Ja, 20 bis 25 entdeckte Fälle trifft es ungefähr. Anders als öffentlich wahrgenommen, ist die Kindstötung bundesweit und in Sachsen ein eher seltenes Delikt. Die Hellfeldzahlen blieben über die letzten vier Jahre recht konstant. Meiner Meinung nach gibt es auch keine nennenswerten Häufungen in Sachsen.
Die Dunkelziffer kann ich nicht präzise beurteilen, weil eine Dunkelfeldforschung ausbleibt. Es wird aber aus mehreren Gründen von einer eher hohen Dunkelziffer ausgegangen: Zum einen gehen verdrängte oder verheimlichte Schwangerschaften einer Kindstötung oftmals voraus. Das Umfeld hat also keine Kenntnis über das Neugeborene. Daher fällt auch dessen Abwesenheit nicht auf. Weiterhin sind die Körper von Säuglingen sehr klein, weshalb eine Vertuschung und Entsorgung der Leiche leichter fällt. Auch die Verwesung erfolgt aufgrund des kleinen Körpers in recht kurzer Zeit, was das Auffinden unwahrscheinlicher macht.
Kindstötungen in Sachsen seit 2022 (zum Aufklappen)
- Die Polizei Zwickau ermittelt zu einem unaufgeklärten Fall einer Säuglingstötung aus Schwarzenberg. Der Tatort gehörte zum Tatzeitpunkt 2011 zum Direktionsbereich, der heute im Bereich der PD Chemnitz liegt. In den vergangenen drei Jahren hat die PD Zwickau keine neuen Fälle von Kindstötungen zu ermitteln.
- In Dresden sind in den Jahren 2022 bis 2024 zwei Kindstötungen registriert worden. Die Tötung aus dem Jahr 2022 ist noch ungeklärt
- Im Bereich Leipzig gibt es laut LKA einen unaufgeklärten Fall von Kindstötung. Aktuell wird in der PD Leipzig ein Verfahren aus dem Jahr 1995 - wegen Mordes eines Neugeborenen - bearbeitet. 2002 und 2023 gab es keine derartigen Straftaten, 2024 eine Kindsttötung (durch Totschlag).
- In Chemnitz gab es in den vergangenen drei Jahren zwei Fälle von Kindstötungen, die bearbeitet worden.
- Zahlen der Polizeidirektion Görlitz liegen derzeit nicht vor.
Quelle: Zusammenfassung Landeskriminalamt Sachsen (LKA)
Wenn die Tötung eines Babys vor Gericht verhandelt wird, geht es immer um die Mutter als Täterin. Was ist mit der Verantwortung des Vaters, des sozialen Umfelds?
Die Frage ist schwer zu beantworten, da die Ursachen einer Kindstötung so unterschiedlich sind. Wenn eine Mutter ihr Kind aufgrund von Gewalt durch den Kindsvater tötet oder durch diesen zur Tötung gedrängt wird, trägt der Kindsvater eine Mitschuld. Im Falle einer verheimlichten Schwangerschaft finde ich es schwierig, darüber zu urteilen. Natürlich ist es leicht dem Vater und dem Umfeld eine Mitschuld zu geben und zu sagen, "die sollten das doch merken". Das ist aber nicht so einfach.
Gerade wenn schon vor der Schwangerschaft eine psychische Störung bestanden hat, durch die sich die Frau bereits sozial isoliert hat, ist es schwierig, eine verheimlichte Schwangerschaft überhaupt zu entdecken.
Im schulischen Umfeld nehmen Lehrerinnen und Lehrer manchmal Verhaltensveränderungen wahr. Eine Konfrontation wird jedoch zum Teil gescheut, weil sie nicht in das Privatleben ihrer Schüler und Schülerinnen eingreifen wollen. Sie sollten in solchen Fällen nicht wegschauen, sondern die Eltern, Schulpsychologen und Schulsozialarbeiterinnen oder -arbeitern hinzuziehen.
Das ist ja auch schwer. Man will niemandem zu nahe treten. Wie erkenne ich, dass eine Frau ihre Schwangerschaft verheimlicht?
Es ist teilweise schwierig, die Anzeichen dafür von den Anzeichen einer psychischen Störung, insbesondere einer Depression, zu trennen. Meist merkt man es am sozialen Rückzug, wenn die Person nicht mehr am sozialen Leben teilnimmt, nicht mehr in der Freundesgruppe unterwegs ist, obwohl sie es früher war. Wenn Offenheit und Redseligkeit zum Beispiel plötzlich vermindert sind. Oder wenn man merkt, dass die Person immer häufiger in der Schule oder auf Arbeit fehlt.
All das sind Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Das muss keine verdrängte Schwangerschaft sein, kann aber ein Indiz sein, dass es Probleme gibt, auch psychischer Art. Dann wäre es wichtig, soziale Unterstützung zu leisten.
Was müsste sich in Deutschland ändern, damit die Zahl der Säuglingstötungen sinkt?
Eine Kindstötung kann nie komplett verhindert werden. Denn oftmals geht es nicht darum, dass objektiv keine anderen Lösungen für die Notlage vorhanden sind, sondern um die subjektiven Verzweiflungsgefühle oder psychischen Störungen.
Rechtlich könnte ich mir vorstellen, dass eine Veränderung des Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch nach Paragraf 218 bewirkt, dass mehr Schwangere in die Beratung und zum Arzt gehen. Durch dieses Gesetz ist es ja so, dass Schwangerschaftsabbruch immer noch nicht legal, sondern nur in bestimmten Fällen straffrei ist. Das trägt zur Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bei.
Eine Erhöhung der Einkommensgrenze zur finanziellen Unterstützung von Schwangerschaftsabbrüchen könnte sinnvoll sein, gerade in Regionen, in denen das Leben sehr teuer ist. Es müsste für alle Schwangeren mehr Unterstützungs- und Beratungsangebote geben. Da müssten die Wartezeiten für Beratungen und Therapieplätze erheblich kürzer sein.
Letztendlich ist auch öffentliche Aufklärung wichtig. Denn das Phänomen verdrängter und verheimlichter Schwangerschaften und dessen Konsequenzen sind kaum bekannt. Auch Ärztinnen und Ärzte müssen da sensibilisiert werden.
Informationen über psychische Störungen sowie dessen Anzeichen und Konsequenzen sollten außerdem breit kommuniziert werden. Weiterhin sollte die Stigmatisierung von psychischen Krankheiten in unserer Gesellschaft weniger werden.