Abschied von Oper Leipzig Ballettchef holt "Giselle" ins Heute
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21. April 2024, 07:45 Uhr
Mit "Giselle" nimmt Ballettdirektor Mario Schröder nach 14 Jahren Abschied von der Oper Leipzig. Am Samstag war die Premiere. Schröder hat das Ballett-Stück aktualisiert und verhandelt damit auch das Thema Geschlechtergerechtigkeit. Ein bemerkenswerter Abschied, findet unsere Krititikerin - und einer, der für Außenstehende unklar bleibt.
- Ballettchef Mario Schröder hat den Klassiker "Giselle" dekonstruiert.
- Die Bühnenbilder der Aufführung sind beeindruckend.
- "Giselle" ist die letzte Produktion des langjährigen Ballettdirektors und Chefchoreografen Mario Schröder an der Oper Leipzig.
Es hätte so schön werden können! Gefühlvoll-romantisch, zu Herzen gehend – mit einer Titelheldin, die im wadenlangen Tütü, auf Spitze schwebend, an gebrochenem Herzen stirbt. Ach ja, Giselle: Klischee und Männer-Projektion der naiven, schönen jungen Frau, die sich in den Falschen, nicht-standesgemäßen Mann verliebt und daran zugrunde geht.
Am Ende ist Giselle eine jener sagenhaften Wilis, die noch vor ihrer Hochzeit verstorben, keine Ruhe geben können: Im Wald tanzen sie nächtens alles, was Mann ist und sich Ihnen nähert, zu Tode. Soweit der Klassiker, der übrigens auch auf Heinrich Heine basiert.
Mehrere Giselles
Gleich zu Beginn liegen Tänzer und Tänzerinnen bewegungslos auf dem Boden, so als ob ihnen zu den munteren Klängen der Introduktion von Adolphe Adam nichts mehr einfiele. Erst die sechs Sängerinnen von Sjaella erwecken Giselle und die anderen mit ihrem Gesang zum Leben.
Fortan tanzt diese weiß-gekleidete Giselle (bravourös in jeglicher Hinsicht Yun Kyeong Lee) um ihr Leben, ihre Liebe und ihre Identität. Denn bei Mario Schröder gibt es mehrere Giselles.
"Wir alle sind Giselle", meint der Choreograf und lässt die Titelfigur aufmerksam verfolgen, was ihren Artgenossinnen geschieht: Wie sie als Objekt männlicher Begierde gehoben, gezogen, gedreht, geworfen, offenbar auch vergewaltigt werden.
In einem anderen, grandios choreografierten Tableaux tragen Tänzer und Tänzerinnen mehrere T-Shirts übereinander. Auf jedem Shirt prangt ein Buchstabe: in immer neuen Konstellationen zusammengesetzt, ergeben sich daraus Schlagwörter wie "Liebe", "Macht", "Male" oder "Female".
Opernklassiker dekonstruiert
Mario Schröder hat Giselle vorsätzlich und grundständig dekonstruiert - so, wie ein Mats Ek oder Akram Khan (der übrigens beim Ballettfestival "Leipzig tanzt" im Juni zu Gast sein wird) vor ihm. Er kennt das Handlungsballett seit seiner Zeit an der Palucca-Schule Dresden, auch als Tänzer.
Der Choreograf Schröder hat sich gefragt, was diese Figur heute noch mit uns zu tun hat. Und da er schon lange interdisziplinär arbeitet, lud er für diese Produktion das Vokal-Ensembles Sjaella zur Zusammenarbeit ein.
Musik mit Seele
Sjaella bedeutet Seele – genau dafür stehen die sechs jungen Frauen mit ihrem exzellenten A Cappella-Gesang auch. Sie verleihen den Seelenzuständen der vielen Giselles Ausdruck: durch atmosphärisch-verdichtete Musik, die zum Teil von Laura Marconi neu komponiert wurde.
Und dieser Brückenschlag vom 19. Jahrhundert und der funktionalen Musik eines Adolph Adam in die Gegenwart ging auf, weil die Weitung des musikalischen Kosmos' mit neuen inhaltlichen Aspekten verknüpft wurde: Fragen nach geschlechterspezifischen Rollenbildern, z.B. der Künstlichen Intelligenz in unserem Leben oder nach Geschlechtergerechtigkeit.
Kostüm- und Bühnenbildner Paul Zoller steckte denn auch Männlein wie Weiblein in Corsagen und Tüllröcke oder in Anzüge – keine(r) ist auf nur eine Rolle festzulegen, auch Giselle nicht, die sich laut Schröder ohne Rücksicht auf Verluste immer wieder neu zu erfinden sucht.
Grandiose Bühnenbilder
Nun ist "Giselle" an sich schon ein düsteres Stück. Nicht von ungefähr ließen andere Choreografen den 2. Akt in einer Psychiatrie spielen. In dieser Neuinterpretation wird dieser Aspekt verstärkt: durch die surreal wirkenden, partiell Endzeitstimmung verbreitenden Video-Projektionen, durch eindrucksvolle Licht- und Bühnennebel-Effekte (grandiose Nebelwolken von oben!) sowie einen Bewegungskanon, der zwar Verzweiflung, Kälte und Ausgestoßensein visualisiert, sich jedoch zunehmend in der Wiederholung zu verlieren scheint.
Ob Giselle am Ende so etwas wie "Erlösung" zuteil wird? Immerhin entschweben die mit meterlangen Stoffbahnen drapierten Sängerinnen in den Bühnenhimmel – spätestens da scheint das Geschehen endgültig ins irgendwie Universal-Pseudo-Religiöse abzugleiten.
Oper Leipzig setzt sich für Nachhaltigkeit ein
Die Oper Leipzig als zweitgrößtes Musiktheater in Sachsen ist mit rund 720 Beschäftigten ein wichtiger Arbeitgeber in der Stadt und in dieser zweiten Spielzeit der Intendanz von Tobias Wolff gut aufgestellt. Man engagiert sich auf der Bühne und in den Werkstätten in Sachen Nachhaltigkeit.
Im Herbst 2025 wird der der Kroate Ivan Repušić als Generalmusikdirektor ans Haus kommen – aktuell hat man mit Christoph Gedschold einen hervorragenden Musikdirektor.
Die Auslastung von Oper & Ballett kann mit 62 Prozent in der Spielzeit 2022/23 nicht befriedigen, aber da spielen u.a. die Corona-Nachwirkungen und die Energiekrise eine Rolle. Aktuell liegt man schon wieder bei 73 Prozent und der Trend geht nach oben.
Ob diese Giselle-Neuproduktion dazu beitragen kann, wird sich zeigen. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass einige Besucher frei bekannten, etwas anderes erwartet und nichts verstanden zu haben.
Letzte Produktion von Ballettchef Mario Schröder
"Giselle" ist die letzte Produktion des langjährigen Ballettdirektors und Chefchoreografen Mario Schröder an der Oper Leipzig, denn sein seit 2010 laufender Vertrag wurde nicht verlängert. Auf ihn folgt Rémy Fichet. Dabei feierte das Premieren-Publikum auch diese Schröder-Kreation (wie viele andere zuvor) mit stehenden Ovationen – einige Buhrufe eingeschlossen.
Bleibt – zumal nach dem Interview in der Leipziger Volkszeitung unter der Überschrift "Enttäuscht und traurig" – die Frage, ob beziehungsweise was intern hätte anders laufen können, vielleicht auch sollen?
Angaben zum Stück
"Giselle"
Ballett von Mario Schröder
Musik von Adolphe Adam, Sjaella, Laura Marconi u.a.
Choreographische Uraufführung
Oper Leipzig
Augustusplatz 12 04109 Leipzig
Termine:
28. April 2024, 19:30 Uhr
09. Mai 2024, 19:30 Uhr
11. Mai 2024, 19:30 Uhr
24. Mai 2024, 19:30 Uhr
26. Mai 2024, 19:30 Uhr
01. Juni 2024, 19:30 Uhr
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Quelle: MDR KULTUR (Bettina Volksdorf), Oper Leipzig
Redaktionelle Bearbeitung: op
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Morgen | 21. April 2024 | 07:45 Uhr