Gesundheit und Bürokratie Frist verpasst: Dann gibt's richtig Ärger mit der Krankenkasse

07. Juni 2023, 18:34 Uhr

Eigentlich müssen Selbstständige nur rechtzeitig den Steuerbescheid an ihre Krankenkasse senden. Wer das verpasst, steht schnell vor großen Problemen und bekommt Stress. Der reicht bis zur Vollstreckung mit allen finanziellen Folgen. Versicherte haben nicht nur viele Millionen Euro Schulden bei Krankenkassen angehäuft. Riesige Summen - über eine Milliarde Euro - werden jedes Jahr sogar von Gerichtsvollziehern eingetrieben. MDR SACHSEN über ein großes Problem, über das kaum jemand spricht.

  • Wenn Selbstständige ihren Steuerbescheid nicht rechtzeitig an die Krankenkasse schicken, wird der Höchstbetrag berechnet. Wer nicht zahlt, wird vollstreckt.
  • Die AOK-Plus beziffert ihre Beitragsrückstände für April 2023 auf insgesamt 130 Millionen Euro. TK und DAK nennen keine Summen.
  • Ein Anwalt beschreibt das Sozialrecht als "Moloch an Normen". Eine Betroffene wirft ihrer Krankenkasse Profitstreben vor und will klagen.

Marie* blättert konzentriert durch ihre Unterlagen. Marie ist 41 Jahre alt, studierte Erziehungswissenschaftlerin, selbstständige Körpertherapeutin und bewegt sich derzeit zwischen Wut und Verzweiflung. Im letzten Moment konnte ihr Anwalt, sportlich formuliert, noch mit einem Eilverfahren 'reingrätschen' und mit der Abwendung der Vollstreckung das Schlimmste verhindern. Drei Monate zuvor hatte ihr die Krankenkasse eine Forderung mit dem höchstmöglichen Beitrag von mehr als 800 Euro im Monat geschickt. Am 12. Januar landete die Forderung von 3.377,64 in ihrem Briefkasten. "Als der Brief kam, war ich in Schockstarre", erzählt Marie. "Ich dachte, was soll das denn jetzt? Ich konnte es erst gar nicht glauben."

Marie ist bei der Techniker Krankenkasse (TKK) versichert. Erst tags zuvor hatte sie mit einem Mitarbeiter telefoniert. "Tut mir leid, ich kann nichts mehr tun, die Frist ist abgelaufen", habe dieser gesagt. Maries Einkommen liegt bei etwa 1.000 Euro netto im Monat. Die Zahlung einer Rate von mindestens 100 Euro – so das Mindestangebot von der TK – ist ihr neben der Miete und den gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht möglich.

Großes Problem bei Solo-Selbstständigen

Der Fachanwalt für Medizin- und Sozialrecht, Hans-Christian Schreiber, kennt das Problem. Viele Selbstständige geraten wegen der schwierigen Beitragsbemessung in Konflikt mit den Krankenkassen. "Es betrifft keine superkleine Randgruppe. Vor allem für Solo-Selbstständige am unteren Ende der Einkommenspyramide sind Schulden bei den Krankenkassen eine große Belastung." Laut Schreiber müssen sich alle Solo-Selbstständige – sofern sie keine private Krankenkasse haben – "freiwillig gesetzlich versichern".

Was passiert bei einer Vollstreckung?

  • Die für viele Vollstreckungen zuständigen Hauptzollämter nennen die Gerichtvollzieher-Arbeit bürokratisch Vollstreckung im Außendienst.
  • Vollstreckungen können immense Folgen haben.
  • Neben der Beschlagnahmung von Geld und Einrichtungsgegenständen führen sie unter Umständen auch zur Pfändung von Konten und einem schlechten Schufa-Eintrag. Der erschwert es, eine Wohnung zu mieten oder einen Handyvertrag abzuschließen.

Etwa zwei Millionen Menschen betroffen

Schreiber schätzt die Zahl der Selbstständigen mit diesem Status auf zwei Millionen in Deutschland. "Das ist etwa jeder 20.", sagte der Fachjurist. Allein die AOK-Plus mit Versicherten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt die Zahl der hauptberuflich Selbstständigen mit "freiwillig gesetzlicher Krankenversicherung" mit 58.000 an. Die Techniker Krankenkasse spricht von etwa 306.000 Selbstständigen, die DAK nennt 110.000 Versicherte mit diesem Status. Hinzu kommen die Selbstständigen der übrigen 93 Krankenkassen. Natürlich haben nicht alle Probleme, doch sie alle fallen bei der Beitragsberechnung unter den §240 Sozialgesetzbuch (SGB) V. Und hier häufen sich die Probleme.

Es betrifft keine superkleine Randgruppe. Vor allem für Solo-Selbstständige am unteren Ende der Einkommenspyramide sind Schulden bei den Krankenkassen eine große Belastung.

Hans-Christian Schreiber Fachanwalt für Medizin- und Sozialrecht

Allein vier Fälle in einer Woche

"Allein in meiner Kanzlei sind in einer Woche vier Fälle eingelaufen", erklärt Fachjurist Schreiber. "Ich bin nur ein Anwalt von vielen in Dresden." Formal könnten die Krankenkassen im Recht sein. Dies wird die noch zu ergehende Rechtsprechung nach der gesetzlichen Neuregelung noch zeigen. Die Vollstreckungspraxis könne jedoch kritisch betrachtet werden. "Bekommen Kassen ihr Geld nicht, geben sie die Angelegenheit zur Vollstreckung ans Hauptzollamt", erklärt Schreiber. "Das geht relativ schnell los. Wenn das Geld da ist, empfehle ich jedem, zahlen Sie es erst einmal."

Schreiber sagt weiter: "Das Ergebnis dieser Gesetzgebung ist überhaupt nicht gewollt. Das ist eine Sanktion für ein Fristvergehen von teilweise wenigen Tagen. Das steht überhaupt nicht im Verhältnis, für manche können die Nachforderungen ja zur Insolvenz führen."

Neues Gesetz

Wo liegt das Problem? Selbstständige müssen zur Nachberechnung der Krankenkassenbeiträge ihren Steuerbescheid vorlegen. Dazu haben sie drei Jahre lang Zeit. Verpassen oder vergessen sie die Frist, setzt die Krankenkasse den Höchstsatz an. Der liegt bei 728,18 Euro im Monat plus Zusatzbeitrag. Diese Festsetzung ist fix. Heißt: Wer nicht zahlen kann, wird vollstreckt.

Hauptzollämter vollstrecken bundesweit 1,14 Milliarden für Sozialbehörden

Viele Krankenkassen geben ihre Forderungen an die Hauptzollämter. Das Hauptzollamt Dresden hat mehr als 19 Millionen Euro im Jahr 2022 für sonstige Sozialbehörden vollstreckt - also für gesetzliche Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und Rentenversicherungsträger. Marie scheint kein Einzelfall. Offenbar gibt es sehr viele Menschen, die ihre Schulden nicht bezahlen können. Bundesweit vollstreckte der Zoll im Jahr 2022 für sonstige Sozialbehörden knapp 1,14 Milliarde Euro in knapp 1,4 Millionen Fällen - die höchsten Einnahmen im gesamten Vollstreckungsdienst des Zolls.

130 Millionen Euro Beitragsrückstand bei der AOK-Plus

Die AOK-Plus schickt ihre Forderungen nicht zum Hauptzollamt. Auch Nachfrage von MDR SACHSEN erklärt sie: "Der Beitragsrückstand aus Selbstzahlermitgliedschaften betrug im April 2023 absolut etwa 130 Millionen Euro." Allein freiwillig gesetzlich Versicherte in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben also 130 Millionen Euro Schulden nur bei der AOK. Nicht eingerechnet sind laut AOK Schulden aus Zuzahlungen oder der Rückzahlung von Leistungen, die nicht versichert waren. Die AOK dazu: "Aus diesem Wert lassen sich keine Rückschlüsse ziehen, ob die Vollstreckung bereits eingeleitet wurde." Die Krankenkasse appelliert: "Suchen Sie – auch bei nicht vorliegenden Steuerbescheiden – den Dialog mit uns. So können wir gemeinsam bessere Lösungen organisieren."

Suchen Sie – auch bei nicht vorliegenden Steuerbescheiden – den Dialog mit uns.

AOK Hinweis an Selbstständige

Unvorhergesehene Lebensereignisse

Körpertherapeutin Marie etablierte sich nach der Corona-Pandemie gerade erneut, als ihr Ex-Partner im Krankenhaus landete. Die schwere Autoimmunerkrankung Colitis Ulcerosa und seine Cortison-Unverträglichkeit führten zu einem schweren Krankheitsverlauf. Marie kümmerte sich, kommunizierte, hielt Hände, sprach zu und wurde für zwei Monate Dauergast im Krankenhaus. Da rückten Briefe in den Hintergrund. Die Frist verstrich am 31.12.2022. Marie meldete sich am 11. Januar. Keine Chance. Der Höchstsatz wurde per Bescheid schon festgesetzt. Zwei Monate später wanderte die Forderung der Techniker Krankenkasse trotz Widerspruch zur Vollstreckung in das Hauptzollamt Dresden.

TK macht keine Angaben

Die Techniker-Krankenkasse erklärt auf Nachfrage von MDR-SACHSEN: "Wie viele Personen im Jahr 2019 die Frist zur Einreichung des Einkommensteuerbescheids versäumt haben, lässt sich nachträglich nicht ermitteln, weil ein Großteil der Verfahren schon abgeschlossen ist." Es gebe keinen digitalen Austausch, die Steuerbescheide landeten nicht automatisch bei den Kassen. "Für freiwillig Versicherte hat der Gesetzgeber festgelegt, dass sie spätestens innerhalb von drei Jahren nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres ihrer Krankenkasse ihre tatsächlichen Einnahmen nachweisen müssen", erklärt die TK weiter. Andernfalls seien die "Höchstbeiträge festzusetzen. Versicherte würden mehrmals schriftlich um ihren Steuerbescheid gebeten. "Sollte es Probleme geben, dann wird zusammen nach einer Lösung gesucht", erklärt die Kasse.

Zur Zahl der Verfahren in Vollstreckung äußerte sich die TK nicht: "Über die Anzahl der Forderungen, die sich in der Vollstreckung befinden, können wir leider keine Angaben machen", heißt es auf die Anfrage von MDR SACHSEN.

Bis 2.500 Mitglieder verpassen bei der DAK die Frist

Laut DAK versäumen etwa 2.000 bis 2.500 Mitglieder jedes Jahr "notwendige Unterlagen wie den Steuerbescheid fristgerecht zur Verfügung zu stellen". "Gerade Solo-Selbständige stehen unter ständigem Druck, nicht nur die Aufträge ihrer Kunden zu erledigen. Umso wichtiger sei es, bei der "gesetzlichen Sozialversicherung und Finanzverwaltung" professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, betonte die DAK.

Sozialrecht – "Moloch an Normen"

"Das Sozialrecht ist ein Moloch an Normen", erklärt Fachjurist Schreiber. Gesetzesänderungen seien oft mit schneller Nadel gestrickt und halten der Praxis nicht stand. Zwar gebe es teilweise Widersprüche im §240 SGB V, wegen der Absprachen der Kassen sehe er jedoch wenig Spielraum: "Die Kassen können nicht 'Milde walten lassen'. Sie haben sich zu gemeinsamen Prinzipien zur Erhebung der Beiträge verpflichtet", erklärt er. Schwierig seien jedoch die hohen Säumniszuschläge, die zu hohen Raten, die von manchen Kassen angeboten würden sowie die Vollstreckungspraxis. "Das Gesetz zwingt nicht zur rigorosen und schnellen Vollstreckung, hier ist definitiv Spielraum vorhanden", erklärt Schreiber.

Säumniszuschlag führt in Teufelskreis

Laut Schreiber bedeute jede Verzögerung einen Säumniszuschlag von einem Prozent im Monat. "Das entspricht zwölf Prozent Zinsen", erklärt der Anwalt. In kurzer Zeit stiegen die Beträge weiter und weiter. "Es ist ein Teufelskreis für Versicherte ohne Rücklagen und hohes Einkommen", sagt Schreiber. "Diese hohen Säumniszuschläge sind einfach unfair."

Es ist ein Teufelskreis für Versicherte ohne Rücklagen und hohes Einkommen. Diese hohen Säumniszuschläge sind einfach unfair.

Hans-Christian Schreiber Fachanwalt für Medizin- und Sozialrecht

Marie: Krankenkasse schlägt aus Versäumnis Profit

Das Festhalten der Kasse am Höchstsatz kann Marie nicht verstehen. Für sie ist die Gesetzeslage nicht so klar, der §240 erwähne erst im Absatz 4a eine Beitragsbemessungsgrenze, der Absatz 1 hingegen lautet: Es "ist sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt." Marie dazu: "Die Krankenkasse orientiert sich nicht an meiner gesamtwirtschaftlichen Situation. Sie ist aber per Gesetz dazu verpflichtet. Durch die festgelegten Beiträge zahle ich mehr, als ich muss. Die Krankenkasse schlägt aus dem Fristversäumnis wirtschaftlichen Profit. Sie verdient mit mir. Das ist nicht gerecht, Fristversäumnis hin oder her. Dann ist es ein sehr doofes Gesetz, das nicht Sinne der BürgerInnen agiert."

Durch die festgelegten Beiträge zahle ich im Grunde nun mehr, als ich muss. Die Krankenkasse schlägt aus dem Fristversäumnis wirtschaftlichen Profit. Sie verdient mit mir. Das ist nicht gerecht, Fristversäumnis hin oder her. Dann ist es ein sehr doofes Gesetz das nicht Sinne der BürgerInnen agiert.

Marie Körpertherapeutin und Solo-Selbstständige

Kein Einzelfall

Marie ist kein Einzelfall: Eine ähnliche Erfahrung machte auch Thomas*. Der Landschaftsarchitekt arbeitete in seinem Studium als Werkstudent in einem Architekturbüro. Anfang 2023 landete die Forderung seiner Krankenkasse im Briefkasten. Für das Jahr 2019 soll er 7.596 Euro nachzahlen. "Der Betrag war für mich unbegreiflich, ich konnte es nicht fassen", erklärt er MDR SACHSEN. "Ich ging davon aus, dass ich die Unterlagen nachreichen kann."

Mutter mit Schlaganfall

Warum hat er nicht rechtzeitig reagiert und die Frist eingehalten? "Ehrlich gesagt, sind mir die Schreiben weggerutscht", erklärt der Landschaftsarchitekt. "Ich hatte privat zu kämpfen, meine Mutter hatte einen Schlaganfall, da war ich ganz woanders." Thomas hat mit der BKK Kasse eine Ratenzahlung vereinbart, die vorerst für ein halbes Jahr gebilligt worden ist. Sein Widerspruch wurde abgelehnt, wie der von Marie auch. Jetzt hat er ein neues Schreiben aufgesetzt. "Ich glaube, die haben mich missverstanden. Ich hoffe, es wird eingelenkt."

Neuer Schritt: Sozialgericht

Marie will jetzt vor das Sozialgericht ziehen. "Ich empfinde die Herangehensweise der Krankenkasse so unfair, dass ich meine rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfe", erklärt sie. "Ich will das nicht schweigend hinnehmen und wünsche mir eine gerichtliche Entscheidung, die im Verhältnis zum Sachverhalt steht. Wenn das bedeutet, eine verhältnismäßige Strafe zahlen zu müssen – okay. Aber ich sehe es nicht ein, wegen eines Fristversäumnisses Beiträge für ein Einkommen (nach)zahlen zu müssen, das ich nie hatte."

Das Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgericht in Dresden
Marie fordert eine Verhältnismäßigkleit in den Forderungen und zieht jetzt vor das Sozialgericht. Bildrechte: IMAGO / Sven Ellger

"Permanente Änderungen" im Sozialrecht

Schreiber kann bei der Gemengelage nur mit den Schultern zucken. "Bei den permanenten Gesetzesänderungen entstehen oft Fehler und Lücken auf Kosten von oft von finanziell schwachen Versicherten", meint er. Nicht in allen Bereichen seien die Kassen so strikt. Dass gerade bei Menschen mit weniger Geld und Reputation so hart zugegriffen werde, führe zu einem tiefen Ungerechtigkeitsempfinden.

Symbolbild: Briefkopf mit dem Text: Bescheid für 2020
Der Steuerbescheid ist der 'Schlüssel zum Glück' - er muss rechtzeitig bei den Krankenkassen eingereicht werden. Bildrechte: IMAGO / Zoonar

TK fordert Datenaustausch

Die TK ist sich des Problems bewusst und verlangt in einem Positionspapier den Datenaustausch zwischen Finanzämtern und Kassen. "Steuerbescheide müssen in Papierform eingereicht werden. Wird das versäumt, droht eine Einstufung zu Höchstbeiträgen. Beitragsschulden und finanzielle Risiken für die Versicherten sowie unnötige Bürokratie sind die Folge", erklärt sie dort. "Abhilfe würde ein elektronischer Datenaustausch zwischen Krankenkassen und Finanzämtern sowie der Minijob-Zentrale schaffen."

Ob es dazu kommt, wird die Zukunft zeigen. Für Thomas und Marie wird dies zu spät sein. Marie beantragt gerade erneut Prozesskostenhilfe für die Unterstützung durch ihren Anwalt. Thomas hofft auf ein Einlenken seiner Kasse.

*Zum Schutz der Versicherten haben wir die Namen geändert.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Leipzig | 06. Juni 2023 | 10:30 Uhr

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