Eine Mutter berichtet Sexueller Missbrauch: "Es war unser bester Freund"
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20. Oktober 2024, 06:00 Uhr
In Niesky unterstützt der Verein "Trude" Betroffene von sexueller Gewalt. Eine Frau, die sich dort beraten lässt, erzählt ihre Geschichte: Der vermeintlich beste Freund der Familie soll ihre zwei Kinder missbraucht haben. Davon ist sie trotz eines Freispruches überzeugt. Diana Mehmel von "Trude" berichtet, Täter würden sich gezielt als "beste Freunde" und Unterstützer an Familien heranmachen, um deren Kinder zu missbrauchen.
- Ein Mann soll zwei Kinder einer Familie missbraucht haben. Die Mutter erzählt ihre Geschichte.
- Die Traumafachberaterin Diana Mehmel warnt vor einer bestimmten Masche der Täter.
- Auf welche Signale sollten Eltern bei ihren Kindern achten?
Silke Schmidt* (*Name geändert) sitzt in der Fachberatungsstelle "Trude" in Niesky, als sie ihre Geschichte erzählt. Diana Mehmel sitzt neben der jungen Mutter und unterstützt sie dabei. Die Traumafachberaterin hilft Opfern sexueller Gewalt und deren Angehörigen und sensibilisiert Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten, für das Thema. Seit drei Jahren begleitet Diana Mehmel auch Silke Schmidt und ihre Familie.
Es ist ein ganz normaler Samstagmorgen vor rund drei Jahren, als sich das Leben von Silke Schmidt aus der Lausitz von einem Moment auf den anderen radikal ändert. Ihr damals dreijähriges Kind* kommt zu ihr und fragt sie: "Was macht denn der Thorsten bei mir da unten?" "Warum, was soll er denn machen?", fragt die Mutter.
Seit Jahren unterstützt der "beste Freund" die Familie
Thorsten Mehler* (*Name geändert) ist zu dem Zeitpunkt der beste Freund der Familie. Seit Jahren unterstützt er die Familie, hilft, wo er kann, ist freundlich, kümmert sich um die Kinder. Für die jungen Eltern bedeutet das eine große Entlastung. Das Vertrauen zu Thorsten wächst über viele Jahre. Er erlebt die Schwangerschaft mit, sieht die Kinder aufwachsen.
"Der macht da unten bei mir immer etwas mit seinem Pullermann", antwortet das Kind. "Das war der Anfang des Grauens", sagt die Mutter heute über diesen Moment.
Mutter: "Hier stimmt etwas nicht"
Als kurz danach auch ihre älteres Kind, damals acht Jahre alt, aufsteht und an den Frühstückstisch kommt, fragt die Mutter: "Hat der Thorsten dich mal so angefasst, wie du es nicht wolltest?" Das sei das erste und einzige Mal gewesen, dass sie das ältere ihrer beiden Kinder darauf angesprochen hat, sagt die Mutter. "Es hat mich angeguckt, hat einen hochroten Kopf bekommen und hat den Kopf wieder gesenkt. Und da war für mich als Mutter klar, hier stimmt etwas nicht", erzählt sie.
Als erstes geht Silke Schmidt mit den Kindern zum Arzt. Der untersucht sie und kommt zu keinem eindeutigen Ergebnis. "Frau Schmidt, ich bin kein Gerichtsmediziner, ich kann das nicht beurteilen, aber hier steht ein Missbrauch im Raum und wenn Sie nicht innerhalb von 24 Stunden eine Anzeige erstatten, dann muss ich es tun", habe er damals gesagt, berichtet die Mutter. Ärzte sind verpflichtet, bei einem Verdacht des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen Anzeige zu erstatten.
Als Silke Schmidt und ihr Mann am nächsten Tag zur Polizei gehen, nimmt ein Polizist die Aussagen auf, zeigt sich empathisch, wirkt engagiert, sagt dann aber laut der Mutter: "Wir haben viele solche Fälle. Ich glaube Ihnen das auch. Aber für eine Verurteilung wird es nicht reichen, weil wir keine Beweise haben. Außerdem ist ihr Kind sehr jung, was es zusätzlich kompliziert macht". Der Kommissar soll Recht behalten. Als es im Jahr 2023 zu einem Prozess kommt, wird der Angeklagte freigesprochen.
Kinder werden immer wieder befragt
Doch bis dahin werden die Kinder immer wieder befragt. "Es war eine absolute Katastrophe, wie das gelaufen ist", sagt die Mutter. "Wie will man ein dreijähriges Kind befragen, wenn wildfremde Männer vor ihm sitzen, mit einem PC in einem Raum?" Das notwendige Einfühlungsvermögen habe gefehlt. Trotzdem habe das dreijährige Kind detailliert erzählt, was der Täter mit ihm gemacht habe.
Auch eine psychologische Gutachterin sei zu dem Schluss gekommen, dass die Schilderungen des Kindes schlüssig und glaubwürdig sind, berichtet Diana Mehmel.
Das ältere der beiden Geschwister schweigt – bis heute will es nicht über den Missbrauch sprechen, den es möglicherweise erlebt hat.
Kind berichtet Diana Mehmel von dem Missbrauch
Das kleine Geschwisterkind hingegen erzählt auch Diana Mehmel spontan von dem Missbrauch, berichtet diese: "Es hat mit mir Tierfamilie gespielt in der traumapädagogischen Arbeit. Und auf einmal nimmt es den Hasen und leckt in seinem Genitalbereich rum." Mehmel ist der Hase in dem Spiel und sagt: "Ich will das nicht, hör auf!" Das Kind antwortet "Warum? Der Thorsten hat das doch auch immer gemacht."
Am Ende reicht es nicht für eine Verurteilung. Der Richter spricht den Angeklagten frei, so erinnert sich die Mutter, mit den Worten "aber nicht, weil ich Ihnen glaube, sondern weil ich Sie juristisch nicht greifen kann". Auch Mehmel ist von der Betroffenheit der Kinder überzeugt, sagt sie. "Drei Jahre Kampf für einen Freispruch", fasst die Mutter resigniert zusammen.
Täter tauschen sich aus
Am erfolgreichsten liefen Verfahren, wenn es forensische Beweise gibt, sagt Mehmel. Die Täter wüssten aber, wie sie vorgehen müssen, um keine Verletzungen im Genitalbereich zu hinterlassen und würden sich dazu im Darknet austauschen. Es habe aber mindestens orale Penetration gegeben, da ist Mehmel aufgrund der Aussagen der Kinder sicher. "Der Mythos mit dem Hymen, dass es zwangsläufig verletzt sein muss, das ist irreführend. Auch dass immer Verletzungen oder Narben im Analbereich sichtbar sind", sagt sie. "Das kann Fehlbeurteilungen des sexuellen Missbrauchs verursachen".
Polizei und Justiz würden stetig ihr Wissen über das Thema erweitern, sagt die Expertin. "Man erkennt an dem Fall, dass dies notwendig ist und das System nicht immer vorbereitet ist, auf die Komplexität sexualisierter Gewalt". Sie fordert deshalb "dass es noch mehr Fortbildung gibt für Richterinnen und Richter, für Staatsanwälte, für Polizistinnen und Polizisten" zum Umgang mit schwer traumatisierten Kindern.
Wie gut ist die Polizei vorbereitet?
Bei der Polizeidirektion Görlitz teilt man auf Nachfrage von MDR SACHSEN mit, es würden "Lehrgänge in Bezug auf Sexualdelikte oder spezielle Vernehmungen von Kindern und Jugendlichen angeboten und wahrgenommen". Bei Vernehmungen würden zum Teil auch Kinderpsychologen hinzugezogen und es gebe Weiterbildungen zur Täterpsychologie. Und im November letzten Jahres hat die Polizeidirektion ein Kommissariat gegründet, das ausschließlich für Sexualstraftaten zuständig ist.
Dass Ermittlungen gegen Pädokriminelle besonders herausfordernd seien, bestätigt ein Sprecher der Polizeidirektion Görlitz: "Insbesondere bei jungen Opfern (zum Beispiel im Kleinkindalter) ist eine Vernehmung sehr schwierig." Oftmals komme es zu keiner verwertbaren Aussage.
Auch kämen rechtsmedizinische Gutachterinnen und Gutachter nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen. Sie würden in erster Linie objektive Befunde festhalten, aber keine Aussagen zur eventuellen Entstehung treffen. "Oftmals enden Gutachten mit dem sinngemäßen Satz, dass ein Missbrauchsfall zwar vorliegen könnte, aber nicht nachweisbar ist."
Ein typischer Fall
Angenommen Thorsten Mehler hat die Tat begangen, dann ist der Fall typisch: Die Täter kommen laut der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung "nach nur eingeschränkt vorliegenden Erkenntnissen" zu rund 25 Prozent aus "der engsten Familie" und zu rund 50 Prozent aus "dem sozialen Nahraum": Damit ist zum Beispiel der erweiterte Familienkreis gemeint, Bekannte, Nachbarn oder Personen aus Vereinen, die die Kinder gut kennen.
Diana Mehmel erzählt, dass ihr in ihrer Arbeit schon mehrere Fälle begegnet seien, in denen plötzlich eine neuer vermeintlich "bester Freund" auftaucht, der die Familie unterstützt. "Die kommen aus dem Nichts und scheinen sich um Familien zu kümmern, denen es gerade nicht so gut geht", sagt sie. In einigen "sehr traurigen Fällen" stelle sich dann im Nachhinein heraus, "dass das gar keine Freunde sind, sondern dass sie einfach Familien gesucht haben, in denen Kinder sexuell ausgenutzt werden konnten."
Wie können Eltern ihre Kinder schützen?
Deshalb rät Diana Mehmel zu großer Vorsicht, wenn plötzlich "neue beste Freunde" auftauchen und immer wieder anbieten, alleine Zeit mit dem Kind zu verbringen.
Diana Mehmel sagt, dass bei ihr in der Fachberatungsstelle viele Eltern sitzen würden, die sich selbst Vorwürfe machen, dass sie nichts gemerkt haben. Die "perfiden Täterstrategien" würden aber auch kluge Menschen "komplett vernebeln", sagt sie. Die Eltern würden so manipuliert werden, dass sie sich sicher sind: "Das ist ein guter Kerl".
Es gebe aber einige Signale, auf die man achten sollte. Das klarste Signal sei, dass das Kind von dem Missbrauch erzählt. "Wenn ein Kind sagt, 'der Onkel fasst mich immer da an' oder Ähnliches, dann sollte man das auf jeden Fall ernst nehmen". Das passiere aber häufig nicht, weil Eltern den Missbrauch nicht wahrhaben wollen würden. Die Vorstellung "das kann nur ausgedacht sein", sei für viele Eltern viel erträglicher.
Silke Schmidt ist enttäuscht, dass es nicht zu einer Verurteilung des Mannes gekommen ist, der sich mutmaßlich ihr Vertrauen erschlichen hat, um sich an ihren Kindern zu vergehen. Viel schlimmer sind für sie aber die Auswirkungen des mutmaßlichen Missbrauchs: "Unsere Kinder sind kaputt, und das hätte auch eine Verurteilung nicht wieder gut gemacht", sagt sie.
Schwere Traumafolgestörungen bei den Kindern
Bei beiden Kindern wurden schwere Traumafolgestörungen festgestellt, berichtet Diana Mehmel. Das jüngere Kind habe nachts eingenässt, habe schlecht geschlafen, sexualisiertes Verhalten gezeigt und habe extreme Wutanfälle gehabt. Es sei aber inzwischen stabil.
Das ältere Kind sei selbstmordgefährdet und sei deshalb sowohl klinisch als auch ambulant in kinderpsychiatrischer Behandlung. Inzwischen habe es eine "super Traumatherapeutin gefunden", sagt Diana Mehmel und es gehe "ganz langsam" bergauf.
*Anmerkung der Redaktion: Um Rückschlüsse auf die Familie zu vermeiden, haben wir die Namen geändert und nennen das Geschlecht der Kinder nicht.