Stimmung in der SPD vor Parteitag in Leuna "Es wird eine Glaubensfrage"
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15. Juli 2021, 17:34 Uhr
Nach der Niederlage bei der Landtagswahl zeigt sich die Parteiführung der SPD "wild entschlossen", die Partei neu auszurichten. Wo dafür aber der richtige Ort ist, ob in der Regierung oder in der Opposition, darüber gibt es unter den Genossinnen und Genossen viele unterschiedliche Meinungen. Am Freitag müssen sie nun entscheiden, ob Koalitionsverhandlungen mit CDU und FDP aufgenommen werden.
Inhalt des Artikels:
- Sondierer Andreas Dittmann: "Es wäre fatal, jetzt Angst vorm Regieren zu haben"
- Ex-Landtagskandidat Igor Matviyets: "Wir können nicht nach jeder Niederlage dasselbe erzählen"
- Jusos wollen "rote Linien" für Sondierungen aufstellen
- Landesvorsitzende Juliane Kleemann: "Neoliberale Wirtschaftspolitik kann nur in Regierung aktiv verhindert werden"
- Ortsvereinsvorsitzender Torsten Weiser: "Niemand kann uns versprechen, dass wir dieses Mal belohnt werden"
- Landesvorstandsmitglied Sindy Tóth: "Wir sind ein wenig deprimiert, das kann man schon sagen"
- Viele hoffen auf Neuausrichtung der SPD
Wenn eins mit Sicherheit gesagt werden kann, dann dass die Landtagswahl im Juni der SPD in Sachsen-Anhalt richtig einen mitgegeben hat. Aber das war es dann schon mit den Gewissheiten vor dem Landesparteitag am Freitag in Leuna. Dort entscheiden die Delegierten, ob ihre Partei offiziell Koalitionsverhandlungen mit CDU und FDP aufnimmt. Es droht ein knappes Ergebnis. Davon gehen zumindest viele Genossinnen und Genossen aus. Denn in der Partei sind sie uneins, wie es weitergehen soll.
Dabei hat die SPD nach eigenem Verständnis in den letzten fünf Jahren erfolgreich gearbeitet. Die Menschen im Land wurden finanziell entlastet. Die Gebühren für die Kita-Betreuung wurden gesenkt. Innerhalb der Kenia-Koalition war man der Antreiber für die Abschaffung der missliebigen Straßenausbaubeiträge. Letzteres stand ebenso wenig im Koalitionsvertrag wie das kostengünstige Azubi-Ticket, mit dem mittlerweile über 2.200 junge Menschen unterwegs sind.
Allein: Bei der Landtagswahl im Juni verlor die SPD zum zweiten Mal in Folge, kam am Ende nur noch auf 8,4 Prozent. Eine ernüchternde Situation. Kann man sich da wirklich eine vierte Koalition als Juniorpartnerin der CDU erlauben?
Sondierer Andreas Dittmann: "Es wäre fatal, jetzt Angst vorm Regieren zu haben"
Kann man, sagt Andreas Dittmann. Kein Wunder: Der Bürgermeister von Zerbst und Vorsitzende der Kommunalpolitiker in der SPD saß schließlich bei den Sondierungen mit am Tisch. Er sei da "mit einem positiven Gefühl" rausgegangen, sagt Dittmann dem MDR.
Klar, die Koalitionsverhandlungen dürften kein Spaziergang werden. Gerade, dass es sehr wahrscheinlich keine weitere Entlastungen bei den Kita-Beiträgen geben wird, werde für seine Partei schwer zu verdauen sein. Dabei hatte man die im Wahlkampf versprochen.
Mit Blick auf das Wahlergebnis sagt Dittmann: "Es wäre fatal, jetzt Angst zu haben." Die verbliebenen Wählerinnen und Wähler hätten ja nicht für die SPD gestimmt, damit die jetzt nicht mitregiere. Ohnehin seien die Alternativen furchterregender.
In der Opposition wäre die SPD die kleinste von drei Fraktionen – und Sachsen-Anhalt möglicherweise regierungslos: "Sollte es uns nicht gelingen, den Parteitag zu überzeugen, dann hat Sachsen-Anhalt die Eintrittskarte in eine veritable Krise gelöst", sagt Dittmann. Er glaube nicht, dass die CDU-Basis für eine erneute Koalition mit den Grünen zu erwärmen sei. Die Grünen müssten nämlich für die SPD einspringen. Derzeit aber sind die außen vor.
Ex-Landtagskandidat Igor Matviyets: "Wir können nicht nach jeder Niederlage dasselbe erzählen"
Für Igor Matviyets hört sich all das bekannt an. Er meint, ein Déjà-vu zu erleben. Im Norden Halles hat Matviyets bei der Landtagswahl eines der besseren Ergebnisse für die SPD geholt. Gereicht hat es am Ende nicht. Seitdem hat er sich mehrfach gegen eine erneute Regierungsbeteiligung ausgesprochen.
Matviyets warnt, dass sich die Ereignisse von 2016 wiederholen könnten. Schon damals hatte es einen Parteitag vor den Koalitionsverhandlungen gegeben. Die Partei nahm diese schließlich zähneknirschend auf, verbuchte den folgenden Koalitionsvertrag als Erfolg – und stürzte fünf Jahre später weiter ab.
"Wir können nicht nach jeder Niederlage wieder erzählen, dass wir zwar beim Wähler verloren, aber am Verhandlungstisch mit der CDU gewonnen haben", sagt Matviyets. Das habe mit der Realität nichts mehr zu tun. Aber, so der Hallenser, "diese Realitätsnähe wäre sehr wichtig, damit die SPD wieder eine starke Partei werden kann".
Jusos wollen "rote Linien" für Sondierungen aufstellen
In Halle haben sich auch die Jusos zumindest offen gegen eine Koalition mit der FDP ausgesprochen. Der Landesverband der Parteijugend geht einen anderen Weg. Vor dem Parteitag am Freitag wurde ein Antrag öffentlich, den die Jusos dort einbringen wollen.
Darin werden die Delegierten dazu aufgefordert, "rote Linien" für die Verhandlungen mit CDU und FDP zu ziehen. Unter den neun Punkten, die in jedem Fall in einem Koalitionsvertrag stehen müssten, finden sich ein sogenannter Vergabemindestlohn von 13 Euro die Stunde bei allen öffentlichen Aufträgen und 600 Millionen Euro Investitionen in die Krankenhauslandschaft, aber auch eine unabhängige Beschwerdestelle bei der Polizei und mehr Geld für Frauenhäuser.
Landesvorsitzende Juliane Kleemann: "Neoliberale Wirtschaftspolitik kann nur in Regierung aktiv verhindert werden"
Die Landesvorsitzende der SPD, Juliane Kleemann, sieht den Antrag gelassen. "Die Jusos haben noch mal die Forderungen aus dem Wahlprogramm geschärft", sagt Kleemann. Natürlich sei es ihr Ziel, in den Verhandlungen so viel rauszuholen "wie möglich". Dafür säßen, käme es zu Koalitionsverhandlungen, auch Jusos mit an den Verhandlungstischen.
Sie könne sich vorstellen, dass der Parteitag tatsächlich Punkte festlegt, die für die SPD "nicht verhandelbar" seien, so Kleemann. Eine Regierungsbeteiligung sei aber sinnvoll. Nur so könne etwa eine "neoliberale Wirtschaftspolitik" von CDU und FDP aktiv verhindert werden. Letztere fürchten nicht wenige Sozialdemokraten.
Kleemann, ausgebildete Krankenschwester und Pfarrerin aus der Altmark, führt den Landesverband seit anderthalb Jahren gemeinsam mit Andreas Schmidt. Nach der Landtagswahl kam sie als eine von drei neuen Abgeordneten in die geschrumpfte SPD-Fraktion. Vor allem ist sie jetzt in der Verantwortung, der Partei ein neues Selbstbewusstsein einzuimpfen.
"Eine erfolgreiche Bilanz an der Wahlurne zu erzielen, ist Aufgabe aller im Landesverband", sagt Kleemann. Sie selbst sei "wild entschlossen", die Partei so schnell wie möglich neu auszurichten. Die dafür laufende Wahlauswertung soll zum Ende des Sommers abgeschlossen sein. Dann dürfte auch ein Entwurf eines Koalitionsvertrages zur Diskussion stehen. Generell, sagt Kleemann, könne man "selbstbewusster und deutlich offensiver" auftreten.
Für Kleemann und die restliche Parteispitze wäre es da hilfreich, wenn der Parteitag sich für Koalitionsverhandlungen entscheidet. Zu dem dabei erwarteten knappen Abstimmungsergebnis könnte es allein deshalb schon kommen, weil es im Lager der Koalitionsgegner keine einheitliche Strategie gibt.
Ortsvereinsvorsitzender Torsten Weiser: "Niemand kann uns versprechen, dass wir dieses Mal belohnt werden"
Das zeigt das Beispiel von Torsten Weiser. Weiser ist Ortsvereinsvorsitzender in Bitterfeld-Wolfen. Er sagt, die SPD könne das Erreichte nicht verkaufen. Und mit CDU und FDP statt den Grünen drohten der SPD noch mehr schmerzhafte Kompromisse als bislang. Für Weiser keine Aussicht, die lohnt, auch wenn seine Partei vielleicht gebraucht werde.
"Wir haben bisher immer Verantwortung übernommen. Niemand kann uns versprechen, dass wir dieses Mal dafür belohnt werden", sagt Weiser. Auch in Bitterfeld-Wolfen und anderen Ortsvereinen haben sich deshalb mehrere Genossinnen und Genossen offen für den Gang in die Opposition ausgesprochen.
Dennoch ist Weiser sich noch unsicher, wie er am Freitag abstimmen will. Denn alle Mitglieder des Landesverbands werden erst nach den Koalitionsverhandlungen zur Abstimmung gebeten. Dann steht eine Mitgliederbefragung an. "Wenn wir das Freitag abschmettern", sagt Weiser, "werden die Mitglieder gar nicht befragt."
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Landesvorstandsmitglied Sindy Tóth: "Wir sind ein wenig deprimiert, das kann man schon sagen"
Sindy Tóth will es lieber nicht so weit kommen lassen. Als am letzten Samstag bereits der Landesvorstand der SPD über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen beriet, war die Genossin aus Bernburg im Salzlandkreis eines von nur drei Mitgliedern, die dagegen stimmten. Als Mitglied der sogenannten Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen hatte Tóth zuletzt einen Beschluss gegen eine Koalition mit der FDP mit auf den Weg gebracht. Auch am Freitag will sie mit Nein stimmen. Schließlich glaubt sie nicht, dass sich CDU und FDP auf einen Vergabemindestlohn von 13 Euro einlassen würden. Das sei aber ihre Kernforderung.
Wie schwer sich die Partei tut, das zeigt sich im Gespräch mit Tóth. Einerseits will sie in die Opposition, um sich dort zu "regenerieren", die eigene Glaubwürdigkeit wiederherstellen. Andererseits sagt sie auch der aktuelle Kurs der SPD sei "total in Ordnung". "Wir sind ein wenig deprimiert, das kann man schon sagen", so Tóth. Auch habe man öfters Probleme mit der Presse: Die SPD fände in den Lokalseiten nur selten statt.
Tóth spricht von einem gemischten Stimmungsbild. Die beiden Lager gingen quer durch die Partei. "Es gibt keine klare Linie; nicht zwischen Männern und Frauen, alt oder jung, Funktionären oder Basis", sagt Tóth.
Viele hoffen auf Neuausrichtung der SPD
Am Ende bleibt eine zentrale Frage für die Genossinnen und Genossen: Wo hat die Partei die größeren Chancen, eine neue Ansprache für die Menschen im Land zu finden – in der Regierung, wo man stets gefragt ist, oder in der Opposition, wo man mehr Freiheiten hat? Wo ist die Rettung greifbarer?
Das könne derzeit niemand mit Gewissheit sagen, heißt es mehrfach. Das beste Argument der Kritiker lautet da noch: Mit dem Gang in die Opposition wird eine Neuausrichtung in jedem Fall erzwungen. "Wenn man nicht mitregiert, muss man die Strategie wechseln", so sagt es Torsten Weiser.
Die Abstimmung am Freitag werde deshalb, so formuliert es eine Delegierte, zu "einer Glaubensfrage".
MDR SACHSEN-ANHALT/Thomas Vorreyer
Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | MDR SACHSEN-ANHALT Heute | 16. Juli 2021 | 19:00 Uhr
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