Corona und die Medien "Bei Corona herrscht ein anderer Informationsdruck"
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16. November 2020, 08:54 Uhr
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie stehen Wissenschaftsjournalisten so stark im Fokus der Öffentlichkeit wie nie zuvor. Inwiefern arbeiten sie anders als die Kollegen in anderen Ressorts? Welche neuen Formate haben sie entwickelt, um dem Informationsbedürfnis in der Bevölkerung besser gerecht zu werden?
Die ungewöhnliche Regierungserklärung
Wenn man ein schlagkräftiges Beispiel für den erhöhten Stellenwert des Wissenschaftsjournalismus seit Beginn der Pandemie sucht, dann bietet sich diese Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf jeden Fall an: "Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat neulich in einem Fernsehinterview etwas gesagt, was ich persönlich nie so anschaulich formulieren könnte wie sie und was zugleich meine tiefe Überzeugung beschreibt, und deshalb möchte ich es hier aufgreifen.“
Die Worte stammen aus einer Regierungserklärung zu den aktuellen Corona-Maßnahmen. Es dürfte die erste Regierungserklärung im Bundestag gewesen sein, in der eine Wissenschaftsjournalistin oder ein Wissenschaftsjournalist zitiert wird.
Die von Merkel gepriesene Chemikerin und Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim ist durch ihre Corona-Erklärvideos auf dem Kanal maiLab populär geworden, der Teil des ARD/ZDF-Onlinenetzwerks funk ist. Eine entscheidende Rolle spielte dabei ein prophetisches Video von Anfang April mit dem Titel “Corona geht gerade erst los“, das bei YouTube bisher 6,4 Millionen mal abgerufen wurde.
Nguyen-Kim gehört auch zu den Moderatoren von Quarks – Corona in 5 Minuten. So heißt ein Ende Mai gestarteter Ableger des Wissensmagazins Quarks, das dienstags im WDR Fernsehen läuft – stets vor Beginn des regulären Magazins. Die Fünf-Minuten-Sendung gehört zu den Formaten, die hiesige Medienhäuser als Reaktion auf die Corona-Pandemie entwickelt haben.
Alles Wichtige in fünf Minuten
In der wöchentlichen Magazinsendung Quarks stecken normalerweise mehrere Wochen Produktionszeit – ein Rhythmus, der nicht so recht passt zur Entwicklung der Pandemie. “Bei einem Thema wie der Zerstörung des Waldes ändert sich der Sachstand nicht innerhalb einer Woche. Bei Corona herrscht ein anderer Informationsdruck“, sagt der für die Sendung verantwortliche Redakteur Max Ostendorf.
Von Quarks – Corona in 5 Minuten produziert der WDR zwei Fassungen – für die lineare Ausstrahlung eine, die zur klassischen Magazinsendung überleitet, sowie eine “neutrale“ für die Mediathek. Die Themen der kurzen Sendung lauten “Schnelltests: Wie können sie Risikogruppen schützen?“ Oder “Welche Langzeitfolgen gibt es?“ Zu Beginn des Präsidentschaftswahlmarathons in den USA war eine Ausgabe unter dem Titel Corona in den USA: Was lief schief? zu sehen.
Corona in 5 Minuten sei ein Format mit einer großen Faktendichte, sagt Max Ostendorf. “Eigentlich sind es fast zu viele Fakten für einen Platz in der Prime Time“, aber angesichts des derzeitigen Informationsbedürfnisses in der Bevölkerung sei das der richtige Weg.
Quarks gehört innerhalb des WDR zu den Sendungen mit der jüngsten Zuschauerschaft. Seit es Corona in 5 Minuten gibt, sind aber auch andere Interessengruppen dabei. “Das zeigt uns, dass es auch bei Menschen einen Wunsch nach wissenschaftlicher Einordnung gibt, die sich bisher nicht unbedingt für wissenschaftliche Sendungen interessiert haben“, sagt Ostendorf. Dass es Corona in 5 Minuten auch 2021 geben wird, steht bereits fest.
71,5 Millionen Abrufe für den Podcast mit Christian Drosten
Das journalistische Genre, das in der Pandemie am stärksten an Bedeutung gewonnen hat, ist der Podcast. Dafür ist zu einem wesentlichen Teil natürlich der Virologe Christian Drosten verantwortlich, der seit dem 26. Februar im NDR-Podcast Das Coronavirus-Update zu hören ist. 71,5 Millionen Mal wurde er bisher abgerufen (Stand: 4.11.). Kurz nach dem Coronavirus-Update, an dem seit Anfang September auch Sandra Ciesek mitwirkt, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, startete der NDR noch einen weiteren Podcast zur Pandemie: Wirtschaft in Zeiten von Corona – alles ist anders (bisher 35 Folgen; Stand: 8.11).
Der WDR bietet seit dem 2. März den Podcast Coronavirus – Doc Esser klärt auf an. Das Format ist bei der Verbraucherredaktion des Senders angesiedelt, entsprechend ist auch der Charakter der Sendung. Der Protagonist ist Heinz-Wilhelm Esser, Oberarzt für Innere Medizin und Leiter der Pneumologie am Klinikum Remscheid. Ebenfalls nur wenige Tage nach dem Coronavirus-Update des NDR startete die Redaktion von MDR aktuell Kekulés Corona-Kompass mit dem Hallenser Arzt und Biochemiker Alexander Kekulé. Nach einer rund einmonatigen Pause ist er seit dem 23. Oktober wieder zu hören.
Wissenschaftler sind keine Helden
Innerhalb des Journalismus wird derzeit viel darüber debattiert, wie Corona die Wissenschaftsberichterstattung verändert hat: “Zu Beginn der Pandemie haben Journalisten Wissenschaftler inszeniert wie Helden, die alles wissen und erklären können“, sagt Daniel Vogelsberg, der die Redaktion von MDR Wissen leitet. Dem habe ein falscher Blick auf die Methodik der Wissenschaft zugrunde gelegen. “Wissenschaftler sind nicht im Besitz einer universellen Wahrheit. Fakten gelten nur so lange, bis eine neue Studie sie widerlegt.“ Was das angeht, habe unter Journalisten mittlerweile ein Lernprozess stattgefunden, sagt Vogelsberg.
Volker Stollorz, Redaktionsleiter beim gemeinnützigen Science Media Center Germany, das Journalisten Experten vermittelt und bei der Einschätzung von Forschungsergebnissen hilft, sagt, auch für renommierte Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten sei es zeitweilig schwierig gewesen, den hohen Ausstoß von neuen Informationen zu verarbeiten. Der Grund: “In den ersten Monaten der Pandemie lernten Forschende beinahe wöchentlich Neues über das neuartige Virus“, erläutert Stollorz.
Zu diesem Komplex gehört auch die Frage, “wie wir damit umgehen, was in den Maschinenräumen der Forschung geschieht“. Was Stollorz damit meint: den Umgang mit sogenannten Preprints, also Arbeitspapieren, deren Thesen noch nicht im Zuge sogenannter Peer Reviews von anderen Wissenschaftlern überprüft wurden. Da hätten Wissenschaftsjournalisten “einen Startvorteil“, weil sie die wissenschaftliche Reputation vieler Preprint-Autoren einschätzen könnten. Angesichts dessen, dass allein auf den beiden populärsten Preprint-Servern bereits bis zum August mehr als 7000 Studien zu finden waren, in denen das Stichwort COVID-19 auftauchte, sei es aber enorm aufwändig gewesen, die wirklich relevanten Preprints herauszufischen. Journalisten hätten leider zu viele fehlerhafte oder via Twitter gehypte Preprints in Umlauf gebracht.
Die Kriterien für die Expertenauswahl
Ein anderer Punkt, der Stollorz wichtig ist: “Wissenschaft ist kein Meinungskampf. Es geht um Evidenz und Belege für Argumente.“ Zur Erläuterung verweist er auf Erfahrungen aus der Anfangsphase der Pandemie: “Da haben sich einige Politikjournalisten an uns gewandt, weil sich im Berliner Politikbetrieb kaum oppositionelle Stimmen zum ersten Teil-'Lockdown‘ fanden. Die sind dann losgerannt, um nach abweichenden Positionen in den Wissenschaften zu suchen.“ Die Kollegen seien überrascht gewesen, dass “wir ihnen davon abgeraten haben“, so Stollorz. Für den Journalismus “mag es ja attraktiver sein, abweichende Meinungen präsentieren zu können. Man muss aber fragen, wann macht das Sinn und wann führt es in den Wald? Wann haben wir es mit einer legitimen Kontroverse zu tun und wann mit einer inszenierten Scheinkontroverse?“
In der Berichterstattung über die Corona-Pandemie ist Stollorz wieder einmal aufgefallen, dass Wissenschaftsjournalisten und Journalisten aus anderen Ressorts Experten nach unterschiedlichen Kriterien auswählen: “Wissenschaftsjournalisten beurteilen Forschende nach ihrer Reputation in dem jeweiligen Fachgebiet. In anderen Ressorts ist eher wichtig, ob ein Wissenschaftler gut reden oder 'die Leute mitnehmen‘ kann.“ Letzteres führe dazu, dass jemand, der sich gut verkaufen kann, “bei Laien eine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit erlangt, die er in der Wissenschaft gar nicht hat.“
Je relevanter wissenschaftliche Themen für politische und wirtschaftliche Entscheidungen werden – Stichwort: Klimakrise –, desto mehr komme es darauf an, dass sich auch andere Ressorts die Kriterien des Wissenschaftsjournalismus zu eigen machten, sagt der Science-Media-Center-Chef. Wie könnte das gelingen? Stollorz’ Vorschlag: “Wissenschaftsjournalisten müssten viel häufiger als bisher in andere Ressorts wechseln.“
Weitere in der Corona-Zeit entstandene Formate:
+++ "Der CoronaCast" der Sächsischen Zeitung. Wöchentliches Talkformat, das Ende Oktober – nach einer mehr als dreimonatigen Pause – wieder an den Start ging.
+++ "Corona. Und jetzt?“ – Podcast von Radio NRW, den 45 lokale Privatradiostationen verbreiten.
+++ Ebenfalls “Corona. Und jetzt?“ heißt ein Mitte August mit dem Untertitel “Eure Fragen, unsere Antworten“ gestartetes Instagram-TV-Format des Bayerischen Rundfunks.
+++ "#Gernelernen" aus der Redaktion MDR Wissen. Während der Zeit der Schulschließungen präsentierten Wissenschaftler hier sieben Wochen lang Lernangebote.
+++ "Lernvideos selber machen – so geht's", ebenfalls von MDR Wissen. Tutorials für Lehrerinnen und Lehrer.
+++ Der MDR-Podcast "Corona ist Neu(stadt)“. Schüler einer Abschlussklasse des Christian-Wolff-Gymnasiums in Halle-Neustadt berichten, wie sich ihr Alltag verändert hat. Seit Anfang November wöchentlich.