Rund 1.000 Menschen haben am Freitag (04.11.11) in Magdeburg gegen das kirchliche Arbeitsrecht protestiert.
Das kirchliche Arbeitsrecht sieht Streiks nicht vor. Bildrechte: imago/epd

Der Redakteur | 11.04.2024 Betteln statt streiken – Warum sich Kirchenmitarbeiter als Arbeitnehmer zweiter Klasse fühlen

11. April 2024, 15:46 Uhr

Das Grundgesetz hat mehr als 140 Artikel. Manchmal stehen diese auch im Widerspruch zueinander. Dann muss abgewogen werden, doch manchmal ist auch der Gesetzgeber gefragt.

Die GDL hat vorgemacht, was eine starke Gewerkschaft für ihre Mitglieder erreichen kann. Diese Gewerkschaft ist klein, die Zahl der Lokführer und anderer Bahnmitarbeiter überschaubar. Über eine Million Arbeitnehmer in Deutschland müssen hingegen klag- und streiklos nehmen, was ihnen ihr Arbeitgeber zubilligt.

Und das ist der zweitgrößte in Deutschland: Die Kirche. Konkret sind es zum Beispiel die Mitarbeiter der Diakonie, also der evangelischen Sozialeinrichtungen, die aktuell über eine Petition auf ihre Situation aufmerksam machen wollen. Die 3.000 Euro Inflationsausgleich hätten sie nämlich auch gern gehabt, wie viele andere Arbeitnehmer in Deutschland, doch dieser Wunsch verhallte in der Kirche zwar nicht ungehört, aber es gab nicht so viel wie erhofft.

Christoph Stolte, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland, kommt zur Jahrespressekonferenz der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) in Halle/Saale. 18 min
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Christoph Stolte ist Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland. Er äußert sich zur Petition der Kirchenmitarbeiter.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Do 11.04.2024 16:40Uhr 17:38 min

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Oberkirchenrat Christoph Stolte, Vorstandsvorsitzender Diakonie Mitteldeutschland, empfindet hingegen das bestehende System ohne Streikmöglichkeit als zeitgemäß. Eine paritätisch besetze Kommission aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern lege solche Dinge fest.

Bei sozialen Diensten zu streiken, zu Lasten von Menschen, die gepflegt werden müssen (…), gehört nicht zur Genetik einer diakonischen Einrichtung.

Oberkirchenrat Christoph Stolte

An welcher Stelle ist das Streikrecht verloren gegangen?

Es gibt einige Ausnahmen beim Streikrecht. Beamte sind ausgenommen wegen ihrer Nähe zum Staat, was bei Polizeibeamten oder auch Soldaten logisch erscheint. Bei einem Pfarrer wäre es auch eigenartig, wenn dieser Gottes Segen verweigert, weil er gerade im Ausstand ist.

Nun haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes der Kirche eine Selbstverwaltung zugestanden. Diese darf ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln, auch die arbeitsrechtlichen. Da sind Streiks nicht vorgesehen. Allerdings steht auch im Grundgesetz, dass Arbeitnehmer Vereinigungen gründen und die Arbeitskämpfe "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" wurden schon fast für heilig erklärt. Nachfragen dazu bitte an die Deutsche Bahn, die zuletzt jeden Rechtsstreit verloren hat.

Spielzeugfiguren, gestapelte Münzen, Paragraphen-Zeichen 11 min
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Jürgen Markowski ist Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er sagt: Gottgegeben ist es nicht, dass die Mitarbeiter der Kirche weniger Arbeitnehmerrechte haben als jeder andere im Lande.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Do 11.04.2024 16:40Uhr 11:28 min

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Am Ende kollidieren hier zwei Grundrechte gewaltig. Einige Arbeitsrechtler sehen deshalb den Gesetzgeber gefordert. Schließlich verrichten die Mitarbeiter in medizinischen oder Pflegeeinrichtungen der Diakonie die gleiche Tätigkeit wie die Mitarbeiter von nichtkirchlichen Trägern.

Das passt nicht mehr in die Zeit. Dieses Auftreten der Kirche mit einer kompletten Ablehnung des Streikrechts für die Beschäftigten, die "verkündigungsfern" sind.

Rechtsanwalt Jürgen Markowski

Wie werden in der Kirche Arbeitsbedingungen und Löhne ausgehandelt?

Auf dem Papier sieht es ganz gut aus. Die arbeitsrechtliche Kommission ist besetzt mit jeweils fünf Vertretern der Mitarbeiter und der Arbeitgeber, also der Kirche. Wenn die Arbeitnehmer mit einer Forderung in die Gespräche gehen, dann können sie Glück haben und auf offene Ohren stoßen oder eben auch nicht, sagen Arbeitnehmervertreter.

Stimmt nicht, sagt die evangelische Kirche. Alles geschehe auf Augenhöhe und das sei "sehr zeitgemäß", so Oberkirchenrat Christoph Stolte. Dem halten Arbeitnehmervertreter entgegen, im Alltag würde die Arbeitgeberseite alleine entscheiden und letztlich auch darüber, ob das Vereinbarte auch umgesetzt wird, kritisiert Mathias Korn, Arbeitnehmervertreter bei der Diakonie Mitteldeutschland.

Während ein Tarifvertrag schon fast Gesetzeskraft hat, ist die Vereinbarung aus der Kommission eher eine Richtlinie, die auch nicht gerichtlich durchgesetzt werden kann, so Korn. In der Folge gäbe es Einrichtungen, die das Ergebnis der "Verhandlungen" schlicht ignorieren. Und was können die Mitarbeiter tun? Nichts sagt Mathias Korn, doch, sie könnten klagen, sagt Oberkirchenrat Christoph Stolte und versteht die Kritik nicht.

Im Mitarbeitervertretungsgesetz – das Pendent zum Betriebsverfassungsgesetz – ist sehr ausführlich eine hohe Mitsprache möglich. Sodass ich die Kritik nicht nachvollziehen kann.

Oberkirchenrat Christoph Stolte

Diese Kritik hat allerdings Unterstützung von 10.000 Unterzeichnern der Petition. Den Initiatoren geht es letztlich auch gar nicht nur um mehr Geld und das Streikrecht, es geht auch darum, dass man mehr Mitsprache möchte bei betrieblichen Belangen und auch das Gefühl haben möchte, wirklich verhandeln zu können in der Kommission und nicht nur "betteln".

Man kann jetzt nicht - wie Herr Weselsky - sagen, wenn wir uns nicht einigen, fährt morgen kein Zug. Deswegen hat das Bundesarbeitsgericht das auch als "kollektives Betteln" bezeichnet.

Mitarbeitervertreter Mathias Korn

Die Regeln ändern könnte die Synode als Parlament. Oberkirchenrat Christoph Stolte glaubt aber nicht, dass das mehrheitsfähig ist und auch Mathias Korn würde nicht darauf setzen.

Diakonie Schriftzug an einem Gebäude 19 min
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Mathias Korn ist Mitarbeitervertreter bei der Diakonie in Mitteldeutschland. Er ordnet die Kirche als Arbeitgeber ein und erklärt, warum streiken dort nicht vorgesehen ist.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Do 11.04.2024 16:40Uhr 18:31 min

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Wann wird der Gesetzgeber tätig?

Ein Thema im Koalitionsvertrag der Berliner Ampel ist die Angelegenheit durchaus, Gespräche gab es auch schon, sagt Mathias Korn, aber der Handlungsdruck war offenbar nicht groß genug. Momentan gäbe es wohl andere Probleme im Lande.

Er merkt auch selbstkritisch an, dass es bei der Mobilisierung der Mitarbeiter durchaus noch Reserven gibt. Die 10.000 Unterzeichner der Petition für den Inflationsausgleich sind bei mehr als 33.000 betroffenen Beschäftigten aber schon mal kein ganz schlechtes Ergebnis. Nur, ob das auch Gehör findet in der Kirche, daran glaubt Mathias Korn nicht so richtig.

Trotzdem sieht Arbeitsrechtler Jürgen Markowski solche Petitionen als hilfreich an, auch, um den Druck politisch zu erhöhen. Aber vor allem müssten sich die Mitarbeiter organisieren und zwar in den Gewerkschaften. Nur so könne sich etwas verändern. Denn ohne Gewerkschaft gibt es auch keinen Streik.

Das "kollektive Betteln" ist tatsächlich ein Zitat aus der Rechtsprechung und es ist niemandem zuzumuten, dass er kollektiv bettelt.

Rechtsanwalt Jürgen Markowski

Mehr Infos zum Streikrecht

MDR (dvs)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 11. April 2024 | 16:40 Uhr

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