Fahrgäste verschiedenen Alters sitzen in einem fahrenden Bus
Für den Ilm-Kreis steht fest: Ein Beitritt zum VMT ist ausgeschlossen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der Redakteur | 30.09.2024 Verloren im Tarifdschungel - der Thüringer ÖPNV und seine (Kreis-)Grenzen

30. September 2024, 19:31 Uhr

Thüringen entstand einst aus sieben Fürstentümern und einem Großherzogtum. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Maße, Gewichte und Währungen können wir nur noch in den Museen des geeinten Freistaats bestaunen. Doch die Busfahrt dorthin ist nach wie vor gelebte Kleinstaaterei.

Für die Kleinstaaterei im Thüringer ÖPNV gibt es Gründe und Zwänge, aber die Geschichten aus dem Leben zeigen den Handlungsbedarf auf: Schüler, die zwei Fahrkarten lösen müssen für einen Schulweg; ältere Damen, die an Haltestellen wahlweise nicht aus- oder einsteigen dürfen.

Im Ergebnis gibt es Busfahrer, die regelwidrige, aber pragmatische Entscheidungen treffen und deshalb lieber anonym bleiben wollen. Die Notwendigkeiten des gelebten Fahrgastalltags und der bürokratischen Organisationsstruktur passen nicht überall zusammen.

Was ist das Problem?

Die Rahmenbedingungen für den ÖPNV gibt der Freistaat Thüringen per Gesetz vor. Demnach sind die Kreise und kreisfreien Städte zuständig für ihren jeweiligen ÖPNV. Kooperationen oder Verbünde wie der Verkehrsverbund Mittelthüringen (VMT) sind freiwillig, keine Pflicht. Darauf verweist der Geschäftsführer des VMT.

Das ÖPNV-Gesetz sagt: Jeder Landkreis ist zuständig für den eigenen Nahverkehr.

Christoph Heuing, Geschäftsführer VMT

Im Ergebnis gestalten einige Kreise ihren ÖPNV allein. Teilweise gibt es Sondervereinbarungen für Busse, die die Kreisgrenzen überqueren, sodass die Fahrgäste nicht an der "Grenze" ein zweites Ticket lösen müssen oder es gibt eine Mitgliedschaft im VMT, die solche Probleme gar nicht kennt. Das komplexe Regel- und Vertragswerk eines jeden Kreises schreibt nämlich vor, welche Haltestellen von wem bedient werden dürfen.

Nahverkehr-Flickenteppich führt zu skurrilen Situationen für Busfahrer

Ein Bus der Linie 220, der von Erfurt nach Sömmerda fährt und in Erfurt-Mittelhausen hält, befindet sich in Erfurt auf der Route des Erfurter Stadtverkehrs. Die Evag hat dort die Konzession, innerstädtisch die Leute beispielsweise von Erfurt-Busbahnhof nach Erfurt-Mittelhausen befördern zu dürfen. Die Sömmerdaer Busse dürfen nur von Erfurt in den Landkreis Sömmerda fahren und zurück.

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Christoph Heuing vom VMT versteht den Ärger, wenn es um Kreisgrenzen geht. ÖPNV ist an Regeln gebunden, erklärt er. Konkret geht es um den Bus 220 von Erfurt nach Sömmerda und kurios wirkende Ein- und Aussteigeregeln.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Mo 30.09.2024 09:50Uhr 16:24 min

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Das führt zu der skurrilen Situation, dass ein Sömmerdaer, der es sich im Bus anders überlegt und einen Zwischenstopp beim Globus einlegen will, schlicht nicht rausgelassen wird, obwohl der Bus zum Einsteigen hält. Die hintere Tür bleibt demzufolge zu und vorne steigen Leute ein, die vorschriftsmäßig von Erfurt(-Mittelhausen) nach Sömmerda fahren möchten. Und das ist seit 1995 schon so, wie die Verwaltungsgesellschaft des ÖPNV Sömmerda mbH mitteilte. Tendenz: Es bleibt auch so.

Wir bitten um Ihr Verständnis, dass diese Regelung bis auf Weiteres Bestand hat, und die Beförderung von Erfurt zum Stadtteil Mittelhausen nur mit den städtischen Verkehrslinien möglich ist.

Olaf Silge, Geschäftsführer Verwaltungsgesellschaft des ÖPNV Sömmerda mbH

Kann man Thüringen verkehrstechnisch vereinen?

Das zuständige Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft bestätigt, dass die rot-rot-grüne Landesregierung bislang auf einen freiwilligen Beitritt der Städte und Landkreise zum VMT gesetzt hat. Ob die neue Regierung daran etwas ändert und welche politische Priorität der ÖPNV überhaupt haben wird, ist unklar.

Immerhin sind die natürlichen Freunde des ÖPNV, also die Grünen, nicht mehr im Landtag vertreten. Das Ministerium verweist aber auch darauf, dass diese Freiwilligkeit mitunter Früchte trägt, so seien 2020 zum Beispiel die Landkreise Saalfeld-Rudolstadt und Saale-Orla zum VMT hinzugekommen.

Mehrere Landkreise in Thüringen an VMT-Mitgliedschaft interessiert

Eine Aufnahme der Landkreise Sömmerda, Nordhausen, Unstrut-Hainich-Kreis und Kyffhäuserkreis würde aktuell geprüft. Der Unstrut-Hainich-Kreis hat diese Prüfung bestätigt, die aber noch nicht abgeschlossen sein soll. Eine Entscheidung werde nicht vor Ende 2025 getroffen. Auch der Landkreis Eichsfeld bestätigte eine solche Prüfung schriftlich.

Aus dem Landratsamt Nordhausen hieß es: Aktuell und seit mehreren Jahren laufen Planungen zur Erweiterung des VMT nach Nordthüringen, Zielstellung Mitgliedschaft zum Fahrplanwechsel 2026/27. Dafür wurden Tarifzonen entworfen und unter den Landkreisen, Bus- und Bahnunternehmen abgestimmt.

Ein Sprecher der Stadt Suhl sagte MDR THÜRINGEN, dass die Stadt Interesse an einem Beitritt zum Verkehrsverbund VMT Mittelthüringen signalisiert habe. Nicht aber der Ilm-Kreis. Die Botschaft von dort: kein Beitritt zum VMT.

Das bedeutet: Suhl könnte zur VMT-Exklave werden, ohne direkt mit dem Verbund verknüpft zu sein. Etwas im Ungefähren bleiben die Landkreise Schmalkalden-Meiningen und Sonneberg.

Die Besonderheit der Kreise an den Landesgrenzen

Die Leipziger S-Bahn fährt bis nach Altenburg. Das zeigt, dass auch eine Thüringer Gesamtlösung noch nicht der Weisheit letzter Bus sein muss. Aus dem Landratsamt Meinigen kam die Botschaft, man arbeite kooperativ mit seinen Nachbarn zusammen, darunter sei auch der Landkreis Hildburghausen. Auch schwanke man langfristig noch zwischen einem künftigen Gemeinschaftstarif "Rhön-Rennsteig-Werratal" (RRW) oder einem VMT-Beitritt.

Ähnlich Sonneberg: Auch für diesen "Grenzkreis" ergibt natürlich ein Blick nach Franken Sinn. Die kreiseigene Omnibus Verkehrs Gesellschaft mbH Sonneberg/Thüringen beschäftige sich seit Längerem mit den Optionen für den Beitritt zu einem Verkehrsverbund. Namentlich genannt werden der VMT, aber auch der Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN), es gibt Beratungen, aber noch keine Entscheidung. Die vermeldet der Wartburgkreis: Man beabsichtige nicht, dem VMT beizutreten und verwies auf die Pendlerbeziehungen, die es auch in Richtung Hessen gibt.

Greiz will nicht VMT-Mitglied werden

Der Landkreis Greiz nimmt in seiner Stellungnahme keinen Bezug auf die Nachbarn in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Man beabsichtige nicht, Mitglied im VMT zu werden. Allerdings gelte auf einzelnen Linien beziehungsweise Linienabschnitten in Richtung Gera der VMT-Tarif. Grundlage seien separate Kooperationsvereinbarungen zwischen dem VMT und den Verkehrsunternehmen.

Fazit: Fast alles kann, nichts muss. Zumindest ist das die Sicht der Verwaltungsseite. Der geneigte Fahrgast versteht die Argumente nur schwer und hofft auf eine Lösung nach dem Deutschlandticket-Modell. Das findet aber nicht einmal der ganz sicher verbundfreundliche VMT gut.

Das funktioniert zwar auf der Fahrgastseite ganz gut, aber im Hintergrund fehlt die Aufteilung der Einnahmen. Man kann zwar ein Ticket in Berlin kaufen und in Erfurt damit fahren, aber noch fließt kein Geld von Berlin nach Erfurt.

Christoph Heuing, Geschäftsführer VMT

MDR (ost)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 30. September 2024 | 16:40 Uhr

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