Thomanerchor und Gewandhausorchester unter Leitung von Thomaskantor Christoph Biller
Thomanerchor und Gewandhausorchester unter Leitung von Thomaskantor Georg Christoph Biller im Jahr 2000. Bildrechte: MDR

Zum Entdecken: mitteldeutsche Weihnachtsoratorien

21. Dezember 2021, 10:53 Uhr

Spricht man vom Weihnachtsoratorium, kommt einem oft zuerst Johann Sebastian Bach in den Sinn. Aber nicht nur er hat zum Fest der Geburt Jesu Christi komponiert: Georg Philipp Telemann, Gottfried August Homilius oder Georg Gebel - gerade die mitteldeutsche Musiklandschaft verfügt über eine reiche Tradition der Vertonung des biblischen Geschehens.

Johann Heinrich Rolle (1716 bis 1785): Weihnachtsoratorium

Der Magdeburger Dom
Johann Heinrich Rolle hat in Magdeburg gewirkt. Bildrechte: imago images / Arnulf Hettrich

Johann Heinrich Rolle gilt als "feuriger und gedankenreicher Komponist, der sich durch seine Werke für die Kirche rühmlichst bekanntgemacht hat", so beschrieb ihn der englische Musikgelehrte und Zeitgenosse Charles Burney in seinen Reisebeschreibungen. Geboren in Quedlinburg, wirkte Rolle mehr als 30 Jahre als "Director musices" und Kantor am Altstädtischen Gymnasium Magdeburg. Auch erfreute er sich zu Lebzeiten großer Beliebtheit und gewann unter anderem als Begründer der ersten öffentliche Konzertreihe in Magdeburg an Bedeutung.

Anzeigen der Magdeburger Zeitung zufolge erklang sein Weihnachtsoratorium im Dezember 1769 und 1771 denn auch innerhalb der "Rolleschen Konzertreihe". Ob es auch Eingang in die reguläre Kirchenmusik fand, konnte bislang nicht geklärt werde.

Der Text, dessen Dichter unbekannt ist, schildert nicht wie üblich die Ereignisse auf dem Feld bei Bethlehem, sondern widmet sich religiösen Betrachtungen. "Sanfte, edle Melodien, natürliche Modulation und eine durchaus reine Harmonie, aber auch seine musterhaften Chöre lassen jeden Zuhörer [seiner Musik] zu den religiösesten Empfindungen hinreißen", so schreibt das Brockhaus-Conversations-Lexikon von 1809.

Georg Gebel (1709 – 1753): Weihnachtsoratorium (1748)

Georg Gebel (der Jüngere) stammt aus Schlesien und wirkte als Organist an der Pfarrkirche St. Maria Magdalena in Breslau, bevor er im Alter von 26 Jahren in die Dresdner Privatkapelle des Grafen Heinrich von Brühl aufgenommen wurde, die vom späteren Thomaskantor Johann Gottlob Harrer geleitet wurde. Für die Musikwelt am nachhaltigsten dürfte Gebels Position in der thüringischen Residenzstadt Rudolstadt gewesen sein: 1746 ernannte man ihn hier zum „Concert-Meister“, ab 1750 durfte er den Titel „Capell-Meister“ führen.

Die Produktivität, die Georg Gebel hier entfachte, war immens und „ohne die Gewähr von Gediegenheit“ (Peter Gülke)  nicht denkbar. Neben den nahezu komplett erhaltenen Kirchenkantaten-Jahrgängen von 1748 und 1751 sowie zwei Passionsmusiken sollen zwölf Opern, mehr als 100 Sinfonien und Partiten sowie weitere Cembalokonzerte komponiert worden sein. Vieles ging verloren, weil ihm „meistentheils die Partitur zugleich mit abgefordert, aber nicht wieder zurückgegeben ward, weil ein jeder, der sich etwas von ihm hatte aufsetzen lassen, solches als was sehr schönes für sich allein auf hob« (Friedrich Wilhelm Marpurg).

Gebels Weihnachtsoratorium (1748) entfaltet seinen besonderen Charme durch kontrastreiche Chöre, eloquente Rezitative, eindringliche Arien und erhabene Choräle sowie insgesamt eine farbige Instrumentation.

Gottfried August Homilius (1714-1785): „Die Freude der Hirten über die Geburt Jesu"


Der Dresdner Kreuzkantor Gottfried August Homilius wirkte ab 1760 in der Dresdner Frauenkirche, nachdem die Kreuzkirche durch preußische Truppen zerstört und ihr Neubau erst 1792 geweiht wurde. Auch Homilius komponierte mehr als 10 Passionen, je ein Weihnachts- und ein Osteroratorium, über 60 Motetten, 180 Kantaten, 4 Magnificate, die sich bis ins 19. Jahrhundert hinein größter Beliebtheit erfreuen und seinen Ruf, „ohne Widerrede unser größter Kirchencomponist“ zu sein (Ernst Ludwig Gerber), unterstreichen.

In seinem Weihnachtsoratorium (1777) entwirft Homilius ein einzigartiges Stimmungsgemälde der Weihnachtsgeschichte aus Sicht der Hirten. Der differenzierte Einsatz eines großen, festlichen Orchesterapparats sowie von Chor und Solisten bestimmt den abwechslungsreichen und äußerst vielseitigen Charakter dieser lang vergessenen Weihnachtsmusik.

Johann Schelle (1648-1701): Actus musicus auf Wey-nachten

Thomaskirche in Leipzig.
Die Thomaskirche in Leipzig. Bildrechte: MDR/Michael Bader


Mit dem „Actus musicus auf Wey-nachten“ von Johann Schelle stellen wir die am frühesten entstandene Weihnachtsmusik unserer Auswahl vor. Johann Schelle erhielt seine musikalische  Ausbildung als Diskantist der Sächsischen Hofkapelle unter Heinrich Schütz und war Sänger im Thomanerchor an der Leipziger Thomasschule. Als Nachfolger von Sebastian Knüpfer (und Vorgänger von Johann Kuhnau, dem wiederum Johann Sebastian Bach folgte) übernahm er ab 1677 das Amt des Thomaskantors und „Director chori musici“ der Stadt Leipzig.

Sein “Actus musicus auf Wey-nachten” (1683) ist eine Festmusik in der Art der geistlichen Konzerte, wie sie im 17. Jahrhundert stark verbreitet gewesen sind. Das Werk basiert auf der Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas. Jeder der drei Teile wird mit einer instrumentalen Sonata eingeleitet. Besonders reizvoll: Die verschiedenen Strophen des Chorals „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ unterbrechen und gliedern diesen „Actus musicus auf Wey-nachten“.

Georg Philipp Telemann (1681-1767): „Die Hirten an der Krippe zu Bethlehem" TWV 1: 797 (1759)

Blick durch einen Torbogen auf die Hauptkirche St. Michaelis Michel in Hamburg
Die Michaeliskirche in Hamburg, eine der fünf Hauptkirchen der Stadt. Bildrechte: imago images / Stephan Wallocha


Wie Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium, so verfügt auch die Weihnachtsmusik des in Magdeburg geborenen und ab 1721 bis zu seinem Tod in Hamburg wirkenden Georg Philipp Telemann über festliche Trompetenklänge und anheimelnde Weihnachtschoräle. Inspiriert hat ihn dazu ein Text in der Stimmung und mit den hoffenden Gedanken der Hirten auf dem Felde von Karl Wilhelm Ramler, den Telemann geringfügig verändert und um Choräle ergänzt hat. So konnte er das Werk gemäß seinen Verpflichtungen als Kantor und Director musices der hamburgischen Hauptkirchen in die Feier des Gottesdienstes einbinden. Darauf deutet auch die Zweiteiligkeit des Werkes hin, so dass die Musik bei ihren ersten Aufführungen vor und nach der Predigt erklingen konnte.

„Den großen Alterswerken hört man das Lebensalter des Komponisten nicht an. Mit ätherischem Engelsgeschwirr und drastischer Dudelsackmusik malt er das Geschehen zur Weihnacht, ohne jemals zur Plattüde zu greifen: er bleibt feinsinnig und edel-galant im besten Wortsinne. Telemann zeigt eine Jugend und Neuheit, zu der manch jüngerer Zeitgenosse den Mut nicht aufbringt und die sich im Alter mit Weisheit und kindlichem Glauben verbinden, vor allem aber: mit Charme." (Ludger Remy)

Auch der Dorfpfarrer predigt das Evangelium Auch wenn es also viele andere Vertonungen der Weihnachtsgeschichte gibt, wenn vom Weihnachtsoratorium die Rede ist, dann ist meist das Weihnachtsoratorium von J.S. Bach gemeint. In der Auführungsstatistik und auch in der Publikumsgunst steht das Oratorium des Thomaskantors ganz oben. Und so haben sich die Komponisten immer die Frage gestellt, ob man nach Bach noch ein Weihnachtsoratorium schreiben kann.

Der Komponist Hans Peter Türk hat auf diese Frage eine einfache Antwort gefunden. Er meinte: “Auch der Dorfpfarrer predigt das Evangelium”.

In der Sendung Musik Modern (am 23.12. um 22:30 Uhr) sind drei klingende Belege von Richard Wetz, Hugo Distler und Matthias Drude zu hören.

Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | 23. Dezember 2021 | 22:30 Uhr

meistgelesen/meistgehört