Rezension Oper Halle: "Die Fledermaus" – tolles Theater für alle?
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13. November 2023, 13:46 Uhr
Patric Seibert, der neue Hausregisseur an der Oper Halle, inszeniert eine "Fledermaus" und spaltet damit nicht nur Publikum, sondern womöglich auch das Ensemble. MDR-Theaterredakteur Stefan Petraschewsky war bei der Premiere vor Ort.
Im Frühling 1873 platzte in Wien eine große Spekulationsblase. Wohl auch deswegen ist "Die Fledermaus" von Johann Strauß, im Sommer desselben Jahres komponiert, ein Stück über das Leben in der Krise: große Party, Tanz auf dem Vulkan. "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist", singen Chor und alle Solisten im Finale des zweiten Akts. Wenn "Die Fledermaus" jetzt in Halle zur Premiere kommt, ist das genau 150 Jahre her. Und auch heute ist Krisenzeit, Dauerkrise angesagt. Die Inszenierung von Patric Seibert greift das Thema auf. In Halle steht ein DDR-Denkmal, eine übergroße rote Fahne, die im zweiten Akt, bei Orlofskys Party, als Rückwand von einem Sofa mitspielt. Auch Karl Marx wird zitiert: "Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit."
"Die Fledermaus" als Vampirgeschichte
Vampirgeschichte – das ist hier die große Überschrift. Schon in der Ouvertüre sieht man im Nosferatu-Style einen Stummfilm, der die Vorgeschichte der Handlung vorstellt. Das Vampir-Thema zeigt sich auch im Bühnenbild von Dorota Karolczak, das sehr gut aussieht. Prinz Orlofsky feiert seine Party in einer Art Friedhofskapelle mit großer Showtreppe, Totentanzorgel und jeder Menge Kerzenschein. Im dritten Akt dreht die Bühne um 180 Grad und wir sehen den Eingang in eine Geisterbahn durch eine riesige Vampir-Maske – laut Stück wäre das hier ein Gefängnis.
Frosch wird Fröschin und Vampirjägerin
In diesem Gefängnis-Akt tritt der Gefängniswärter Frosch auf, eine Sprechrolle. Diese Szene wird oft zu einer Kabarett-Nummer, aktuelle Bezüge eingeschlossen. Hier in Halle ist es eine Fröschin, die sich als Vampirjägerin vorstellt, schon mit Stückbeginn auftritt und Knoblauchzöpfe auf der Bühne verteilt. Sie holt in der Gefängnis- bzw. Geisterbahnszene zum politischen Rundumschlag aus: Kanzler Scholz, Greta Thunberg, Ukraine, Israel, auch die AfD, die Geflüchteten aus Afrika unterstelle, sie würden aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen. Das müsse enden. Sie sollten für sich selber sorgen. Die Fröschin macht sich über diese Position lustig, dreht den Spieß um, fragt, wie es wäre, wenn wir hierzulande nach Afrika auswandern würden, weil die Bedingungen dort besser seien.
An dieser Stelle gab es lautstarke Buhs. Eine Zuschauerin rief: "Ich habe für eine klassische Operette bezahlt!" Ein Zuschauer forderte: "Raus mit dir!" Die Vampirjägerin, die Schauspielerin Barbara Dussler, hielt tapfer dagegen, bemühte das Bild von einem Zahnarzt, bei dem es auch wehtue, aber dann auch gleich vorbei sei. Diese Nummer wirkte ziemlich bemüht. Für eine gesellschaftliche Wurzelbehandlung ohne Spritze, dafür mit dem Regie-Holzhammer, ist diese Operette keine gute Wahl. Die Themen Kapitalismus und Ausbeutung hätte man subtiler aus dem Stück selbst entwickeln können. Nach dem Vorbild Bühne und Kostüme.
Kostüme wie beim Karneval in Rio
Die Inszenierung zitiert zu Beginn die Gründerzeit. Das Wohnzimmer im ersten Akt, in Eisensteins Villa, sieht bürgerlich aus. Die Party von Orlofsky zeigt dann schon in den Kostümen eine Festgesellschaft durch die Jahrhunderte: von der Renaissance bis heute. Immer ist es die ganz große Abendrobe: viel Glitzer und Lametta. Adriana Braga Peretzki, die Kostümbildnerin und Faust-Theaterpreisträgerin, kommt aus Brasilien. Bei ihr sieht es immer auch wie Karneval in Rio aus. Toll!
Rosalinde jenseits von Männerphantasien
Fabrice Bollon, der Generalmusikdirektor, dirigiert die Premiere. Immer da, wo die Musik Raum hat, sich auszubreiten, klingt es passend und fein ausbalanciert. Bollon wählt gute Tempi, schafft es mit sehr vielen Farben zu malen. Mit Chor und Solisten geht das Orchester gut zusammen. Highlight ist "Brüderlein und Schwesterlein" – sehr innig gespielt und gesungen, mit schöner Ironie. Der Chor ist musikalisch gut aufgelegt, allerdings leider nicht in Szene gesetzt. Vom Gesang her ist es eine gute Ensembleleistung.
Drei Solisten sollen heraus gehoben werden: Das Stubenmädchen Adele, Vanessa Waldhart, hat sehr klare, schöne Koloraturen, besonders im Couplet: "Spiel’ ich die Unschuld vom Lande", fällt das auf. Gastsängerin Rosalinde, Netta Or, ist bemerkenswert. Die Rolle wird oft als Männerphantasie in Szene gesetzt, Typ: Stille Wasser sind tief. Wie zum Beweis trägt Rosalinde dann einen feurigen Csárdás vor. Or zeigt hier eine Rosalinde Mitte, Ende Vierzig, jenseits des Abziehbilds. Sie trägt ein cremefarbenes, schlichtes Kleid. Das wirkt souverän, nobel. Und so singt sie auch, und wird dadurch zu einer glaubhaften und interessanten Figur. Eine Entdeckung! Ihr Gatte Gabriel von Eisenstein, Andreas Beinhauer, hat eine schöne, warme Baritonstimme. Auch in den Dialogen ist er stark und macht darstellerisch eine gute Figur.
Regisseur ist "nicht so der Experte"
Regie führte Patric Seibert, der seit dieser Spielzeit Hausregisseur und Dramaturg an der Oper ist; und jemand, der mit Frank Castorf zusammengearbeitet hat. Im Bayreuther "Ring" 2013 stand er als erfundene Figur mit auf der Bühne. Ich habe das damals gesehen und schätze diesen „Ring“ als gelungene Interpretation im Wagner-Jubiläumsjahr: Öl als das Rheingold und Schmiermittel des 20. Jahrhunderts, weswegen Kriege geführt werden. Seiberts Konzept, die "Fledermaus" als Vampirgeschichte vor Ort in Halle, mit roter Fahne und lokalen Bezügen in den Dialogen zu erzählen, geht auf. Das Problem ist für mich die Arbeitsweise als Regisseur.
Seibert hat viele Ideen, aber kann sie nicht umsetzen. Seine Regie wirkt den ganzen Abend über wie gestellt und nicht wie gespielt. Das Geschehen auf der Bühne hat keinen Fluss, geht nicht zusammen. Der Chor steht im Regen, meistens nur hinter den Solisten, die vorne an der Rampe singen. Die Solisten versuchen natürlich, sich hier gut zu verkaufen, aber haben kaum eine Chance, weil auch das Bühnenbild nicht funktioniert, denn es füllt immer die ganze Bühne aus, steht zu weit vorne, und es bleibt kein Platz für die Szene. Im Theater-Podcast der Bühnen Halle antwortet Seibert auf die Frage, was in dem Stück musikalisch passiere: "Ich bin da ja nicht so der Experte." Ist das ein Offenbarungseid?
Wir haben uns doch alle lieb!
Am Schluss der Vorstellung kommt Intendant Walter Sutcliffe auf die Bühne und beschwört den Zusammenhalt – spricht ins Mikro: "Wir sind alle hier ein Team. Wir machen tolles Theater, arbeiten zusammen! Also vielen Dank an euch alle!" Dafür erntet er Applaus vom Publikum. Es ist ein unüblicher Auftritt. Warum macht er das? Hat der neue Hausregisseur das Team eben gerade nicht überzeugen können? Will Seibert mit seiner Wurzelbehandlung ein neues Publikum ansprechen und spaltet damit das Ensemble?
Ein junges Publikum war am Premierenabend übrigens im jüngst geschlossenen Galeria-Kaufhof Kaufhaus zur Techno-Party gekommen. Geschätzte 800 Gäste, Mittzwanziger, hieß es am Einlass. So geht eine Epoche zu Ende. Würde das für Orlofsky heutzutage eine coole Location sein? Wie weit muss sich ein Stadttheater ändern, wenn die erwartete "klassische Operette" nicht mehr jedermenschs Sache ist? Unterm Strich läuft die Inszenierung so wie sie jetzt ist nicht rund. Das Theatersystem, meiner Beobachtung nach, auch nicht.
Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 13. November 2023 | 09:10 Uhr