Rezension Der Sänger als Regisseur: Rolando Villazón inszeniert Bellinis "La sonnambula"
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Italienische Oper mit großen Gefühlen und überwältigender Musikalität an der Semperoper Dresden
20. März 2023, 15:55 Uhr
Am einstigen Morettischen Opernhaus in Dresden gab es vor fast 170 Jahren die Deutsche Erstaufführung von Vincenzo Bellinis zweiaktiger Oper "La sonnambula“. Das Werk ist seit 130 Jahren auf keiner Dresdner Opernbühne mehr zu erleben gewesen, obwohl es von einer großartigen Musikalität geprägt ist. Weil die Freunde der italienischen Oper in aller Welt vor allem ihre Favoriten von Verdi, Puccini und Rossini bevorzugen und von Bellini allenfalls noch die "Norma" kennen? Oder weil die "Schlafwandlerin" trotz ihres weltweiten Siegeszugs von eher krudem Inhalt geprägt ist, der heute kaum noch funktioniert?
Die Titelfigur "Amina"
Sie ist somnambul, sie wandelt im Schlaf, weiß davon im wachen Zustand nichts. In der räumlichen und geistig-religiösen Enge eines Schweizer Bergdörfchens, wo das Stück spielt, hält man sie gar für ein Gespenst und schließt sich nachts lieber ein.
Fatalerweise widerfährt ihr dieses Schicksal just zur Verlobung mit dem Gutsherrn Elvino, der seine Liebste ausgerechnet im Gemach des jungen Grafen vorfindet, sie daraufhin verstößt und umgehend die Gastwirtin Lisa heiraten will. Ein kaum nachvollziehbares Auf und Ab der Gefühle.
Musik voller Emotionalität
Doch wenn etwas unbedingt für diese Oper spricht, dann ist das vor allem die Musik. Sie ist schwelgerisch und wurde an der Semperoper unter der musikalischen Leitung des italienischen Belcanto-Experten Evelino Pidò, der erstmals mit der Sächsischen Staatskapelle gearbeitet hat, in einem wunderbaren Klangzauber präsentiert.
Dass aber auch die Handlung durchaus einen heutigen Zugang verdient, hat Regisseur Rolando Villazón in dieser Dresdner Koproduktion mit dem Théâtre des Champs-Élyssées Paris, der Metropolitan Opera New York und der Opéra de Nice Côte d’Azur unter Beweis gestellt. Das Allround-Talent ist ja als begnadeter Sänger, Bildschirm-Moderator und Bühnen-Regisseur bekannt, ebenso als erfolgreicher Schriftsteller und origineller Zeichner sowie seit 2019 auch als Intendant der Mozartwoche Salzburg.
Enge inmitten der Bergwelt
Villazón macht das Exotische dieser Figur deutlich, die wegen ihrer Eigenheit als Phänomen gilt und von der Gesellschaft ausgegrenzt wird.
Das Bühnenbild von Johannes Leiacker macht diese Enge inmitten der Bergwelt deutlich, zeigt auf einer Ebene den Lebensraum der Dorfbewohner – neun schmale Türen, hinter denen man sich vorsorglich verschanzt – und darüber die eisigen Gipfel, auf denen sich leichtfüßig tänzelnd ein amorphes Double der Schlafwandlerin bewegt.
Kaum nachvollziehbares Auf und Ab der Gefühle
Zu den großen, sich aus der Handlung ergebenden Gefühlen um Liebe und (vermeintlichen) Verrat, um Eifersucht, Zurückweisung und Vergebung kommt hier also deutlich das Verhalten in einer hermetisch abgeschlossenen Gesellschaft.
Da kann die Schweizer Bergwelt durchaus auch für andere Gegenden und Situationen stehen. Derlei Assoziationen macht die Neuinszenierung nachdenkenswert. Andere Aspekte würzen die zweieinhalb Stunden Spieldauer mit Villazóns launigem Witz. Wenn etwa die hübsche Amina hier mitten auf dem Dorfplatz erwacht und obendrein im Morgenmantel des Grafen steckt, scheint für die gaffende Meute alles klar zu sein.
Für den geradezu pietistisch gefühllos wirkenden Elvino ohnehin. Nur Lisa sieht jetzt ihre Chancen steigen, wird jedoch einer tatsächlichen Turtelei überführt und scheidet als Braut gleich wieder aus.
Villazón macht in seiner Regie sehr präzis deutlich, wie Vorurteile geschürt werden, wie sich Menschengruppen gegen unverstandene Außenseiter wenden, sie verstoßen und schlimmstenfalls um ihr Lebensglück bringen. Ein derartiger Umgang mit Individualität ist nicht nur in eisiger Bergwelt zu finden.
Starke Stimmen erforderlich
Der Sächsische Staatsopernchor hat einmal mehr (auch bösen) Charakter gezeigt, wurde von der Regie allerdings etwas statisch behandelt, glänzte musikalisch jedoch bestens präpariert durch Jonathan Becker. Hinreißend in Spiel und Gesang wurden die beiden weiblichen Hauptpartien der Rivalinnen Amina und Lisa gestaltet.
Mit Emily Pogorelc als Amina und Rosalia Cid als Lisa debütierten zwei faszinierende Sopranistinnen an der Semperoper, beglückten mit glockenhellen, wandelbaren und substanzhaltigen Stimmen, bewältigten Koloraturen und unangestrengt wirkende Spitzentöne mit überzeugender Leichtigkeit – und wurden im Anschluss natürlich mit lautstarkem Beifall gefeiert. Erwartungsgemäß brillierte auch Georg Zeppenfeld als sonorer Grafensohn anstandsvoller Möchte-nicht-gern-Verführer. Maxim Mironov glänzte mit schneidig strahlendem Tenor als Elvino, Martin-Jan Nijhof als liebender Pechvogel Alessio und Reut Ventorero als liebenswerte Pflegemutter Teresa.
Termine & Infos
22. März, 21. und 23. April sowie 1. und 5. Mai 2023 jeweils ab 19:00 Uhr
(Die ursprünglich für den 28. April angekündigte Vorstellung entfällt laut Angaben des Hauses.)
Gesamtdauer: 2 Stunden 40 Minuten
Premiere: 19. März 2023
Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 20. März 2023 | 09:10 Uhr