Mo 04.11. 2024 20:00Uhr 60:00 min

Autos fahren durch Marienborn Grenzübergang 1990
Autos fahren durch Marienborn Grenzübergang 1990 Bildrechte: imago images / Rust
MDR KULTUR - Das Radio Mo, 04.11.2024 20:00 21:00
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MDR KULTUR - Hörspiel | "100 aus 100 - Die Hörspiel-Collection" und 35 Jahre Mauerfall Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle

Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle

Originaltonhörspiel zum 9. November 2009

von Thilo Reffert

  • Stereo
"Ein stabiles und absolut wetterfestes Stahlschiebedach empfehlen wir solchen Kun­den, die neben den Annehmlichkeiten, die ein Cabriolet bietet, die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle nicht missen möchten." Das Auto, das mit solchem Prospekt-Charme angepriesen wurde, brauchte eigentlich keine Reklame, denn es war in der geschlossenen Gesellschaft der Fahrgastzelle DDR ebenso hochbegehrt wie lang erwartet: der "Wartburg 353".

Und es war eben dieses Symbol der Mangelgesellschaft, das in den Abendstunden des 9. November 1989 Geschichte schrieb - oder zumindest dabei behilflich war. Das war, nachdem die Magdeburger Ärztin Dr. Annemarie Reffert und ihre damals fünfzehnjährige Tochter Juliane in den "heute"-Nachrichten des ZDF die Meldung des Tages erfahren hatten: "Dass von sofort an DDR-Bürger direkt über alle Grenzübergänge zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ausreisen dürfen."

Als wenige Minuten später die "Aktuelle Kamera" das Unglaubliche bestätigt hatte, beschlossen Annemarie und Juliane Reffert etwas zu wagen, was diesem Herbst und ihrer aller Aufwachen aus Ohnmacht und Lethargie den Punkt auf's i setzen musste: Sie stiegen in ihren "Wartburg" und fuhren die knapp sechzig Kilometer zur Autobahn-Grenzübergangstelle Marienborn-Helmstedt.

Nicht, dass sie dort im Westen etwas vorgehabt hätten oder dort bleiben wollten. Worum es ihnen ging, war "nur" die Probe aufs Exempel. Wenn die Staatsgrenze West - als "Mauer" der Inbegriff aller staatlicher Repression - auf einmal ihre jahrzehntelange Undurchdringlichkeit eingebüßt haben sollte, dann wollten sie sich am eigenem Leibe davon überzeugen.

Nicht mit von der Partie bei dieser kurzentschlossenen "Wartburg"-Fahrt über die Bühne der Weltgeschichte war Annemarie Refferts Sohn Thilo. Statt den ultimativen Augenblick der Befreiung mitzuerleben, steckte er in der Kaserne, wusste von nichts.

Ganz abfinden damit kann er sich noch nach zwanzig Jahre nicht. Etwas wie eine stets unerfüllte Sehnsucht treibt ihn um: in irgendeiner Form nachzuholen, was er damals verpasst hat. Könnte man nicht diesen unwiderruflich vergangenen Moment noch einmal so gründlich und genau, so handgreiflich aus der Erinnerung holen, dass man wenigsten im Nachhinein doch noch "dabeigewesen" ist?


* Thilo Reffert
Thilo Reffert, geboren 1970 in Magdeburg, lebt bei Berlin. Nach mehreren Theaterstücken mit "Hellas Sonntag" (MDR 2002) fürs Hörspiel entdeckt. Weitere Hörspiele u.a.: "Tom und die anderen" (WDR 2005), "Queen Mary III" (MDR 2007), "Bleib kurz dran" (MDR 2017), und "Karl Marx statt Chemnitz" (MDR 2018). Neben zahlreichen Kinderhörspielen wie "Nina und Paul" (DLR Kultur 2011), "Die Entdeckung Spielofaniens" (SWR/ WDR 2015) und "Herr der Lügen" (DLF 2021) schrieb er für den MDR seit "Schlusslicht" (MDR 2009) elf "ARD Radio Tatorte", zuletzt "Auslöschung" (2019). Für "Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle" (MDR 2009) wurde er mit dem "Hörspielpreis der Kriegsblinden", dem "Deutschen Hörspielpreis der ARD 2010" und dem "ARD Online Award" ausgezeichnet.
Mitwirkende
Regie: Stefan Kanis
Komposition: Cornelia Friederike Müller (aka cfm)
Produktion: MDR 2009
Darsteller
Matthias Matschke
Juergen Schulz