Interview mit Viktor Timtschenko Als die Ukraine unabhängig wurde
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17. März 2016, 15:13 Uhr
Im Dezember 1991 löste sich die Ukraine von Russland und wurde ein eigener Staat. Was passierte damals eigentlich? Viktor Timtschenko erzählt von den Hoffnungen und Schwierigkeiten in den Anfangsjahren der Ukraine.
Gab es eine breite Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine Anfang der 1990er-Jahre?
Es gab damals eine Organisation in der Ukraine, die sich "Ruch" nannte, auf Deutsch "Bewegung". Sie propagierte die Loslösung von Moskau. "Weg von Russland", war das Motto. Aber eine tatsächlich breite Bewegung, die die Loslösung von Russland wollte, das gab es nicht. "Ruch" hatte vielleicht eine Anhängerschaft von 20 Prozent der Ukrainer.
Als die UdSSR nach dem August-Putsch 1991 in Auflösung begriffen war, da tendierten freilich viele Ukrainer zur Unabhängigkeit ihres Landes. Das lief dann eher so nach dem Motto: Wir Ukrainer können uns in der Unabhängigkeit weitaus besser entfalten, weil wir besser arbeiten und wirtschaften können als die Russen, weil wir große Betriebe haben, Kohlegruben und gute Böden, denn schließlich galt die Ukraine als die Kornkammer der UdSSR. Und sicher spielte schon auch eine Rolle, dass man sich gegenüber Russland etablieren wollte. Denn die Russen hatten die Ukrainer nie so ganz für voll genommen. Kleinrussen nennen sie die Ukrainer bis heute.
1986 gab es die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Wie wirkte sich dieses Ereignis auf das neu entstehende Land aus?
Es spielte für die Ukraine keine besondere Rolle, jedenfalls was die Versorgung anbelangt. Riesige Landflächen waren für die Bauern zwar entfallen, aber die Ukraine ist groß genug. Und mit Strom war die Ukraine mit ihren sechs Atomkraftwerken eigentlich überversorgt. Die ersten Oligarchen verdienten ungeheuerlich - sie hatten sich die Netze gekapert und Strom verkauft - nach Polen, Tschechien, Ungarn etwa …
Was machte die Kommunistische Partei der Ukraine zur Zeit der Unabhängigkeit?
Die Kommunisten haben ihren Einfluss voll erhalten. In der Ukraine gab es keine Verfolgung von Kommunisten, auch kein Verbot der KP. Der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, Leonid Krawtschuk, war vorher Sekretär für Propaganda gewesen. Viele KP-Funktionäre wurden Unternehmer und Abgeordnete. Die Bonzen waren im Ganzen gesehen sehr weich gelandet. Es war schon alles noch sehr kommunistisch geprägt. Und daran änderte sich im Grunde auch in den folgenden Jahren nur wenig.
Nach der Unabhängigkeitserklärung war die Ukraine über Nacht Atomwaffenstaat. Wie wurde das Problem gelöst?
Das war eine relativ einfache Sache. Die Atomwaffen gehörten der Sowjetunion. Diese Waffen wurden nur auf ukrainischem Territorium stationiert. Und nach dem Zerfall der UdSSR gab es zwei Probleme: In der Ukraine wusste tatsächlich keiner, wie man mit diesen Waffen umgeht. Nur die russischen Offiziere wussten, wie die funktionieren. Das zweite Problem - die Unterhaltung der Atomwaffen kostete viel Geld. Und das Geld hatte die Ukraine nicht.
Und dann gab es den Druck der Atomwaffenmächte, allen voran der USA, die die Ukraine nicht als Atomwaffenstaat haben wollten. In Budapest vereinbarten die USA, England und Russland, dass sie die territoriale Unabhängigkeit der Ukraine garantieren würden, wenn die Atomwaffen nach Russland verschwänden. Aber es wurde kein Vertrag geschlossen, sondern lediglich ein Memorandum unterzeichnet. Ein solches Memorandum ist aber nichts Bindendes. Es verpflichtet zu nichts.
Die Ukraine war am Ende jedoch froh, dass die Russen die Raketen zurückholten. Russland lieferte im Gegenzug Brennelemente für die ukrainischen Kernkraftwerke.
Damals begannen bereits der Aufstieg der Oligarchen …
Die Ukraine hatte natürlich riesige Vermögen. Die Konkursmasse des Sozialismus war enorm. Es gab Kraftwerke, Druckereien, Verlage, Ferienheime, Eisenbahnlinien, Metallurgie-Fabriken, Bergwerke, Kraftwerke … Es gab sehr viel zu holen. Und diese Oligarchen stammen aus zwei Ecken der ukrainischen Gesellschaft: Die einen sind Parteibonzen, rote Direktoren. Die wollen sich das Unternehmen, ihren Betrieb aneignen, billig kaufen. Um das Unternehmen preisgünstig zu bekommen, fuhren sie es "gegen die Wand". Wenn es scheinbar nichts mehr wert war, kauften sie es. Unterstützt wurden sie dabei von Schutzgelderpressern oder Leuten, die beim Erwerb des Unternehmens halfen. So entstand die Riege der Oligarchen, die für die Ukraine eine entscheidende Rolle spielen sollten.
Um fürderhin viel Geld mit ihren Unternehmen verdienen zu können, mussten sie jedoch auch politische Macht bekommen, sich gewissermaßen in die Staatsmacht einkaufen. Sie kauften sich etwa Abgeordnete, die Gesetze in ihrem Sinne schufen. Das müssen aber viele sein. Der Oligarch Rinat Achmetow hatte etwa 50 Abgeordnete auf seiner Gehaltsliste.
Wie stark ist die russische Minderheit der Ukraine?
Russen und Ukrainer sind Ostslawen, es gibt keine Unterschiede zwischen ihnen. Die Bindungen zwischen ihnen sind sehr eng. Die russische sogenannte Minderheit hat sich nie als solche gefühlt. Nie als minderwertig. Sie hat keine Wünsche artikuliert, weil sie im Grunde genommen stets in der Mehrheit war.
Wie abhängig war die Ukraine von Russland?
Die Ukraine war von Anfang an abhängig von russischer Energie, vom Gas. Es gab aber auch andere Abhängigkeiten – die Zulieferer für die Betriebe. Zuvor hatte es eine Produktionskette gegeben. Die war mit einem Male unterbrochen.
Im Grunde genommen gab es aber beiderseitige Abhängigkeiten. Russland wollte Gas verkaufen, die Ukraine brauchte Gas. Die Pipelines, durch die Russland damals Gas nach Westeuropa leitete, gehörten ausschließlich der Ukraine.
Im Prinzip hat sich an diesen gegenseitigen Abhängigkeiten seither nicht viel geändert. Es ist nicht viel Strukturelles passiert.
Wer ist Viktor Timtschenko? Viktor Timtschenko, geboren 1953, studierte in Kiew Journalistik. 1990 siedelte er nach Deutschland über und arbeitete als Redakteur der ersten unabhängigen Zeitung der DDR, "DAZ". Von 2000 bis 2005 war er Redakteur der Deutschen Welle in Köln. Seither lebt Timtschenko als freier Journalist und Autor in Leipzig. 2009 veröffentlichte er sein Buch "Ukraine. Einblicke in den neuen Osten Europas".