Das Massaker von Postelberg: wie Tschechien seine Vergangenheit aufarbeitet
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29. November 2017, 11:14 Uhr
In Tschechien ist am 28. November 2017 der Roman "Die Hussiten bei Postelberg" von Jan Vávra erschienen. Darin geht es um ein Massaker an 700 Deutschen im Jahr 1945 - eines der schwierigsten Kapitel der tschechischen Nachkriegsgeschichte.
Der 6. Juni 1945 war ein Sonntag, knapp einen Monat nach dem Kriegsende. Auf dem Kasernenhof des tschechischen Städtchens Postelberg (heute Postoloprty) waren hunderte deutsche Männer im Alter von 13 bis 60 Jahren tagelang zusammengepfercht worden.
Hinrichtung von Jugendlichen
Auf dem gepflasterten Hof mussten sie bei Tag stehen oder auf dem Boden sitzen und in der ersten Nacht liegen. Erhob sich am Morgen einer von ihnen ohne Erlaubnis, wurde er erschossen. Unter den Gefangenen waren fünf erschöpfte Jugendliche, die angeblich Äpfel von einem Baum gestohlen haben sollen, um ihren Hunger zu stillen.
Erst werden sie ausgepeitscht, dann strecken Gewehrsalven vier von ihnen nieder. Ein Junge überlebt, fällt auf die Knie und fleht um Gnade - vergeblich. Er wird durch einen Schuss ins Genick getötet. Das alles geschieht vor den Augen der Menge, die mit vorgehaltener Waffe in Schach gehalten wird.
Massaker mit mehr als 700 Toten
Es folgen weitere Morde in Postelberg und im benachbarten Saaz (heute Žatec): Innerhalb weniger Tage werden dort im Frühsommer 1945 etwa 2000 Sudetendeutsche umgebracht. In den bislang gefundenen Massengräbern fand man die Überreste von 763 Menschen - erschossen oder erschlagen ohne Gerichtsurteil.
Es ist das schlimmste einer ganzen Reihe von Nachkriegsmassakern, die in der Zeit der "wilden Vertreibung" kurz nach Kriegsende im Frühjahr 1945 an den Sudetendeutschen verübt wurden. Tschechische Revolutionsgarden, Soldaten und Polizisten nahmen Rache für die Demütigungen durch die deutsche Besetzung.
Staatlich gebilligte Vergeltung
Nach Schuld oder Unschuld wurde nicht gefragt. Die wahllosen Erschießungen von Widerstandskämpfern und unbeteiligten Zivilisten durch die Waffen-SS noch kurz vor Kriegsende steigerten den Hass auf alles Deutsche ins Unermessliche. Die Gewalt gegen die Deutschen war staatlich legitimiert: Schon 1943 hatte Staatspräsident Edvard Benes die Tschechen in einer Rundfunkrede zur Vergeltung aufgerufen:
Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben. Die ganze Nation wird sich an diesem Kampf beteiligen, es wird keinen Tschechoslowaken geben, der sich dieser Aufgabe entzieht und kein Patriot wird es versäumen, gerechte Rache für die Leiden der Nation nehmen.
Und es trifft nicht nur Männer. In dieser Zeit kommt es zu massenhaften Vergewaltigungen an sudetendeutschen Frauen und Mädchen.
Jahrzehntelanges Totschweigen
Bis zur politischen Wende 1989 blieben diese Verbrechen ungesühnt. Es gab zwar 1947 eine Untersuchung der Vorgänge von Postelberg durch das tschechische Parlament, doch ein "Straffreistellungsgesetz", verabschiedet am 8. Mai 1946, schloss die straffrechtliche Verfolgung der Verbrechen aus, die zur Zeit der Vetreibung verübt worden waren.
Den Nachkriegsbewohnern von Postelberg und Saaz kam das gerade recht. Denn in den Häusern der getöteten und vertriebenen ehemaligen Bewohner lebten sie fortan selbst. Außerdem gab es etliche, die zunächst bereitwillig mit den deutschen Besatzern kollaboriert und sich danach ganz besonders als Rächer hervorgetan hatten. Verschweigen wurde so zur ersten Bürgerpflicht.
Morddrohungen für Zeitungsartikel
Wie emotional das Nachkriegskapitel im Tschechien auch Jahrzehnte später noch gesehen wurde, bewiesen die Reaktionen auf erste Veröffentlichungen über die Massaker im Jahr 1995. David Hertl hatte in der Postelberger Lokalzeitung "Svobodny Hlas" (Freie Stimme) einen Artikel über die grausamen Hinrichtungen veröffentlicht. Daraufhin bekam er Drohbriefe und Morddrohungen.
Erst 2007, als die Staatsanwaltschaft im bayrischen Hof wegen der Ermordung der fünf Jungen ihre tschechischen Kollegen um Amtshilfe bat, liefen ernsthafte Ermittlungen an. Doch als Überlebende, Angehörige und versöhnungswillige Tschechen allen Opfern des Nachkriegsmassakers ein Denkmal setzen wollte, stießen sie auf den Widerstand der ortsansässigen Bevölkerung.
Zunehmende Aufarbeitung im vergangenen Jahrzehnt
"Für viele war die ganze Geschichte über Jahrzehnte tabu.", so der Historiker Michael Pehr. Im Jahr 2009 stimmte der Stadtrat von Postoloprty der Errichtung eines Gedenksteins zu, mit der tschechischen und deutschen Inschrift "Allen unschuldigen Opfern der Ereignisse in Postelberg im Mai und Juni 1945".
Am 6. Mai 2010 erschütterte dann der Film "Töten auf Tschechisch" des Prager Regisseurs David Vondráček, ausgestrahlt zur besten Sendezeit im tschechischen Fernsehen, die Nation. Zu sehen waren Amateuraufnahmen aus der Zeit der Vertreibungen.
Darauf zu sehen: Dutzende deutsche Zivilisten stehen am Straßenrand und werden erschossen. Denjenigen, die nicht gleich tot in den Graben fallen, fährt ein LKW über Köpfe und Leiber. Der Film widerlegte den nationalen Opfermythos und bewies: Die Tschechen wurden in der Nachkriegszeit auch zu Tätern.