25 Jahre Deutsche Einheit Der freiwillige Exodus
Hauptinhalt
29. September 2015, 08:10 Uhr
Es ist ein Tag der großen Zeremonien. Tausende Menschen sind am 3. Oktober 1990 zum Reichstag gekommen und verfolgen fahnenschwenkend das Spektakel der Einheitsfeier. Der Geruch von Sekt und Feuerwerk liegt ebenso in der Luft wie das Gefühl von Euphorie und Zuversicht. Auch 1.000 Kilometer südöstlich sitzen in Rumänien Zehntausende Deutsche vor ihren Fernsehern. Für sie ist dieser Oktobertag vor allem eins: ein zusätzlicher Grund, die Heimat ihrer Vorfahren zu verlassen und ihr Glück im wiedervereinigten Deutschland zu suchen.
Hunderttausende wollen auswandern
Nichts wie weg, denken sich viele Rumäniendeutsche. Manche ihrer Landsleute waren schon vor dem politischen Umsturz des Ceausescu-Regimes ausgewandert, doch hatten sie teils jahrelang auf eine Ausreisebewilligung warten müssen. 279.000 Deutsche leben zu dieser Zeit noch in Rumänien. Mit den Entwicklungen 1989/90 stehen ihnen nun alle Wege in die Bundesrepublik offen. Zehntausende beginnen, ihre Koffer zu packen.
Auch Ingeborg Bogdan überlegt, was sie tun soll. Für die 49-jährige Tierärztin bieten sich viele Chancen in Deutschland, doch ebenso viele Risiken. Wie wird sie empfangen werden in dem fremden Land? Soll sie für eine vage Aussicht auf Glück die Heimat ihrer Vorfahren verlassen? Wird sie in Deutschland überhaupt als Tierärztin weiterarbeiten dürfen? Sie entscheidet sich, vorerst in Klausenburg (Cluj) zu bleiben.
Rückblick: Wenige Wochen nach dem Sturz der Ceausescus reiste der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher im Januar 1990 nach Rumänien und versicherte den Deutschen vor Ort, sie müssten keine übereilten Ausreiseentscheidungen treffen. "Der Spiegel" titelte: "Massenflucht in die Bundesrepublik. Gefahr für den Wohlstand?"
Die deutsche Regierung will den Zustrom begrenzen
Mehrfach wird die Gesetzgebung geändert. Ab Juli 1990 gilt: Wer als Rumäniendeutscher nach Deutschland auswandern will, muss sich einem zweistufigen Verfahren unterziehen: im Geburtsland und in der Bundesrepublik. Wer dabei als Deutscher anerkannt wird, bekommt vom Bundesverwaltungsamt in Köln einen Aufnahmebescheid. In Rumänien nennt man diesen Bescheid die "RU-Nummer". Sie erlaubt es, nach Deutschland einzuwandern. Und nicht nur das. Den Rumäniendeutschen steht sogar ein Teil der bundesdeutschen Rente zu.
Der Andrang ist riesig. So groß, dass sich die Bundesregierung schon bald gezwungen sieht, das Verfahren zu ändern, um den Zustrom zu begrenzen. Ab dem 1. Januar 1993 gelten verschärfte Gesetze für die Zuwanderung von Aussiedlern. Rumäniendeutsche müssen von nun an nachweisen, dass sie Benachteiligungen ausgesetzt waren. Ausgenommen der Fälle, die nach dem Krieg von den staatlichen Behörden wegen ihrer deutschen Zugehörigkeit verfolgt wurden, ist dieser Nachweis nicht einfach. Denn kaum eine Minderheit ist in Rumänien so beliebt wie die deutsche: Sie gilt als fleißig, ehrsam, pünktlich.
Für Ingeborg Bogdan ist es zu spät
Es ist der Zeitpunkt, an dem sich auch Ingeborg Bogdan entscheidet, mit ihrer Familie nach Deutschland zu ziehen. Ihr Aufnahmebescheid ist ausgestellt auf den 10. November 1993. Zu spät, um noch problemlos einreisen zu können. Mühsam versucht sie, Benachteiligungen nachzuweisen, aufzuzeigen, warum sie in die Bundesrepublik fliehen musste. Trotz aller Anstrengungen, ihr Antrag wird abgelehnt. Und sie muss eine schwere Entscheidung fällen. Soll sie in Deutschland bleiben und auf ihre Einbürgerung warten – obwohl sie dann in den kommenden acht Jahren von Sozialhilfe leben muss? Oder soll sie nach Rumänien zurückgehen? Sie entscheidet sich für die zweite Option.
Nur noch 30.000 Deutsche leben in Rumänien
Bei ihrer Rückkehr findet sie eine andere Welt vor als die, die sie verlassen hat. In die Häuser der Deutschen waren inzwischen oft Rumänen gezogen. Heute, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, leben gerade einmal noch 30.000 Deutsche in Rumänien. Die einst bedeutende Minderheit stellt inzwischen nur noch 0,2 Prozent der Landesbevölkerung. An den Rand gedrängt sind sie dennoch nicht. So gewinnt der rumäniendeutsche Politiker Klaus Johannis im vergangenen Herbst die Präsidentschaftswahl. Damit stellt die deutsche Minderheit heute den Mann für das höchste Amt im Land.
Auch sonst ist die deutsche Kultur in Rumänien gefragt wie kaum zuvor. So gibt es noch immer mehr als 80 deutsche Kindergärten und mehr als 50 deutschsprachige Schulen im Land. Besucht werden sie nun aber mehrheitlich von rumänischen Kindern.
Auch Ingeborg Bogdan kann sich mit ihren Kenntnissen einbringen. Sie gibt jede Woche Deutschunterricht für Kinder. Ihre eigenen Kinder sind allerdings inzwischen deutsche Staatsbürger geworden.