Die Kinder von Sarajevo
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05. Mai 2017, 11:46 Uhr
Sie kamen 1992 aus dem umkämpften Sarajevo nach Deutschland und blieben fünf Jahre: Heimkinder aus Bosnien. Nach mehr als 20 Jahren besuchen zwei Erziehrinnen von damals ihre Schützlinge von einst. Aus "ihren" Kindern sind Erwachsene geworden, die ihren Platz im Leben gefunden haben.
1992 beginnt der Bosnienkrieg im ehemaligen Jugoslawien. Um Sarajevo schließt sich ein Blockadering, die Stadt wird mit Granaten beschossen, Heckenschützen feuern auf die Menschen. Mitten im Kriegsgebiet liegt das Kinderheim Bjelave. Die Lage ist dramatisch und spitzt sich weiter zu. Einige der Pflegekräfte sind aus dem Heim geflohen. Zurück bleiben die Säuglinge und Kleinkinder und wenige Erwachsene, die sich nur teilweise um die Waisenkinder kümmern können. Beim damaligen Landtagsabgeordneten in Magdeburg Jürgen Angelbeck geht ein Hilferuf ein. Er überlegt nicht lange und leitet eine Rettungsaktion für die Kinder ein. Er gelingt ihm einen kurzen Waffenstillstand für die Ausreise der Kinder auszuhandeln und schließlich eine Genehmigung der serbischen Armee für den Transport aus der Stadt zu erhalten. Mit Unterstützung einer örtlichen Hilfsorganisation aus Sarajevo gelangen die Kinder per Bus aus dem umkämpften Gebiet. Doch unterwegs wird der Bus von Heckenschützen beschossen, die sich nicht an den Waffenstillstand halten. Zwei Kinder sterben bei der Attacke.
Vom Flughafen Split werden die Kinder schließlich nach Sachsen-Anhalt ausgeflogen und landen mit einer russischen Transportmaschine am 5. August 1992 in Zerbst auf dem Militärflughafen. Von hier aus werden sie sofort in Krankenhäuser und umliegende Waisenhäuser verteilt.
"Wir hatten die Kleinen sofort ins Herz geschlossen …"
Elke Lindau arbeitet in einem der Kinderheime und erinnert sich gut: "Und plötzlich waren sie da, und wir hatten die Kleinen alle sofort in unser Herz geschlossen, aber es war ein Bild des Jammers." Fünf schöne und behütete Jahre verbringen die Kinder aus Sarajevo anschließend in den Kinderheimen in Sachsen-Anhalt. Sie feiern Ostern und Weihnachten gemeinsam mit ihren liebevollen Erzieherinnen, machen Ausflüge an die Ostsee, bekommen die Nestwärme, die sie brauchen, um für ihr späteres Leben stark zu sein. Jede der Erzieherinnen wäre auch bereit gewesen, eines der Kinder zu adoptieren, doch im Herbst 1997 meldet sich die bosnische Regierung. Die Kinder sollen als erste Flüchtlinge zurück in ihr Heimatland, der Krieg ist vorbei. Das stößt in Sachsen-Anhalt auf großes Unverständnis, denn niemand kennt die Umstände, die im zerbombten Sarajevo herrschen. Die Abreise der Kinder wird verschoben.
Tränenreicher Abschied
Schließlich werden die Waisenkinder mit einem Flugzeug zurück in ihr Heimatland gebracht, in das Kinderheim, aus dem sie vor fünf Jahren gerettet wurden. Es ist ein tränenreicher Abschied. Sie kennen das Land nicht mehr und müssen sich hier nun unter ganz anderen Umständen eingewöhnen. Der Kontakt zu ihren Erzieherinnen aus Sachsen-Anhalt wurde unterbunden. Doch die fürsorglichen Frauen aus Schönebeck, Calbe und Staßfurt haben "ihre" bosnischen Waisenkinder nie vergessen. Seit über 20 Jahren haben sie ihre damaligen Schützlinge nicht wiedergesehen. Sind sie ihren Weg gegangen im Nachkriegs-Sarajevo? Was ist aus ihnen geworden?
Wiedersehen in Sarajevo
In einer großen Rechercheaktion konnten wir viele der Kinder von damals wieder finden und haben ein Treffen in Sarajevo organisiert. Elke Lindau und Constanze Wolf, zwei der Erzieherinnen aus Schönebeck haben lange auf dieses Treffen hingefiebert. Nun sehen sie im SOS-Kinderdorf in Sarajevo ihre Kinder nach so langer Zeit endlich wieder. Ein großer Moment für alle.
Die Kinder haben ihren Weg gemacht, ausgestattet mit Selbstvertrauen und Nestwärme, die sie in den Kinderheimen in Sachsen-Anhalt erfahren haben.
Vermina: "Ich will die Kinder stark machen"
Vermina zum Beispiel ist erst ein Jahr alt, als sie mit dem Kindertransport nach Deutschland kommt. Sie hat ihren Schulabschluss gemacht und Musik studiert. Heute arbeitet sie leidenschaftlich mit Kindern als Musikpädagogin. "Ich will die Kinder für schwierige Situationen im Leben stark machen," sagt Vermina. Und etwas was sie immer vermisst hat, hat sie nun endlich: Eine eigene Familie! Gemeinsam mit ihrem Mann und den Schwiegereltern lebt sie am Rand von Sarajevo. "Der Unterschied zwischen mir und meinem Sohn ist, dass er etwas haben wird, was ich nie hatte: Eltern und eine eigene Familie."
Dragan: Seine Familien sind seine Kolleginnen
Dragan hat es nicht so gut getroffen. Seine Leidenschaft war immer die Mathematik. Er hat in Sarajevo ein Studium begonnen, doch er konnte sich die Studiengebühren nicht leisten und hat als Waisenkind wenig Unterstützung. So arbeitet er nun in mehreren Jobs, um sich über Wasser zu halten. Seine Familie sind seine Kolleginnen, an denen er sehr hängt.
Armin: Ehrenamtlich als Trainer
Armin Stanković hatte nicht einmal einen Vornamen, als er 1992 in Zerbst auf dem Flughafen landet. Den Namen hat er von seinen Erzieherinnen in Deutschland bekommen. Er hat später in Sarajevo Sportwissenschaften studiert und war Profifußballer. Heute arbeitet er bei einer Bank. In seiner Freizeit trainiert er Jungs aus dem SOS Kinderdorf und aus sozial schwachen Familien im Fußball. Leicht ist das nicht, denn es fehlt an Fußballplätzen und Unterstützung. Armin arbeitet ehrenamtlich als Trainer, denn er kann die Probleme der Jugendlichen verstehen und will etwas weitergeben von seinen Erfahrungen.
Dragana: Ballett, Familie und Taekwondo
Als Roma hatte Dragana immer mit Vorurteilen zu kämpfen. In Deutschland lernte sie jedoch, dass nicht die Herkunft entscheidend ist, sondern das, was man kann und tut. Zurück in Sarajevo hat sie als erste Roma zeitgleich zwei Schulabschlüsse gemacht, war aufgrund ihrer ausgezeichneten Leistungen Stipendiatin und hat eine Karriere als gefeierte Balletttänzerin ihres Landes hingelegt und Ballettunterricht für Kinder gegeben.
Heute lebt sie mit ihrem Mann Semir und zwei Kindern in Sarajevo. Für das Kopftuch der muslimischen Frauen hat sie sich bewusst entschieden. Das Paar lebt einen liberalen Islam und die Hausarbeit und Kindererziehung wird ganz selbstverständlich geteilt. Im Kinderheim in Deutschland habe sie gelernt, dass Mann und Frau gleich seien, meint Dragana. Hausfrau sein, ist nichts für das Energiebündel und so führt sie gemeinsam mit ihrem Mann eine Taekwondo-Schule in Sarajevo. Auch sie arbeitet mit Kindern und versucht sie, für das Leben stark zu machen.
Die Kinder sind ihren Weg gegangen
"Es ist beeindruckend, was aus den Kindern geworden ist", resümiert Constanze Wolf nach dem Treffen mit "ihren" bosnischen Waisenkindern. Die Kinder von damals sind heute erwachsen und sind ihren Weg gegangen, sicher auch Dank der glücklichen Kinderjahre, die sie in Deutschland verbringen durften.
Über dieses Thema berichtet HEUTE IM OSTEN: Die Reportage auch im FERNSEHEN: MDR | 06.05.2017 | 18:00 Uhr