Litauen und Estland Zwischen Kontinuität und Neuanfang
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12. Dezember 2016, 16:11 Uhr
In den baltischen Staaten Litauen und Estland kam es im Herbst 2016 zu überraschenden Regierungswechseln. Die wichtigste Frage: Wird sich womöglich das Verhältnis zum gemeinsamen Nachbarn Russland verändern?
Der Werbeeffekt hätte für ein Restaurant besser nicht sein können, sogar Zeitungen in Übersee druckten im Sommer das Graffito eines Lokals im Vilniuser Bahnhofsviertel. Der Bruderkuss zwischen Donald Trump und Wladimir Putin ist darauf zu sehen. Damals, mitten im US-Wahlkampf, war es eine Allegorie auf eine mögliche Annäherung zwischen Washington und Moskau, die gerade im Baltikum mit Skepsis betrachtet wird. Die Annexion der Krim durch Putin und die Infragestellung des NATO-Bündnisses durch Trump wecken Befürchtungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken an der Ostsee. Mit dem Sieg Donald Trumps sind diese weiter gewachsen. "Wir sind verunsichert, was der künftige US-Präsident machen wird, was mit Moskau ist und was mit der europäischen Union passiert", fasst Holger Roonemaa, Journalist der estnischen Zeitung „Eesti Päevaleht", die Sorgen zusammen. "Das alles schürt Unsicherheit."
Machtwechsel
Dagegen deuten sich Parallelen zwischen den Ereignissen in Washington und in zwei der drei baltischen Länder an, in denen es zu überraschenden Regierungswechseln kam. In Litauen gewann bei den Parlamentswahlen im Oktober 2016 eine Partei, die keiner auf dem Schirm hatte. Und auch in Estland kam es einige Wochen später zu einem unerwarteten Machtwechsel. Am gleichen Tag nämlich, als Donald Trump als neuer US-Präsident feststand, wurde Ministerpräsident Taavi Rõivas durch ein Misstrauensvotum im Riigikogu, dem Parlament in Tallinn, gestürzt. Rõivas gehört der liberalen Reformpartei an und war zum Zeitpunkt seiner Wahl im März 2014 mit 34 Jahren der jüngste Regierungschef der EU. Seine Koalition mit der konservativen "Vaterlands-Partei" (IRL) und den Sozialdemokraten zerbrach an der Besetzung von Posten in Staatsunternehmen, heißt es offiziell.
Estnische Opposition übernimmt Regierung
Beobachter wie der Politikwissenschaftler der Universität Tartu, Vello Pettai, sehen das jedoch als Vorwand. Entscheidend für den Sturz der Rõivas-Regierung war demzufolge das Stühlerücken innerhalb der größten Oppositionskraft, der linksliberalen Zentrumspartei. Seit 1991 bis vor wenigen Wochen führte Edgar Savisaar, Bürgermeister von Tallinn, die Partei und isolierte sie immer mehr mit prorussischen Äußerungen. "Beginn einer neuen Ära", titelten estnische Medien daher, als Anfang November 2016 Jüri Ratas an seine Stelle trat und damit die Zentrumspartei wieder Regierungsbündnisse öffnete. Am Tag darauf folgte der Misstrauensantrag, der die seit 16 Jahren regierende Reformpartei auf die Oppositionsbank schickte. Seit dem 23. November 2016 regiert Jüri Ratas als Zentrumschef mit den Sozialdemokraten und der IRL.
"Der Eindruck, dass Estland sich nun in Richtung Russland gedreht hat, ist falsch", konstatiert Politikwissenschaftler Pettai. Denn westlichen Zeitungen zufolge sei ein proeuropäischer Ministerpräsident einer prorussischen Partei gewichen. Tatsächlich unterhält die Zentrumspartei mit Putins "Einiges Russland" eine Kooperation. So geht sie bei der russischen Minderheit auf Stimmfang, glaubt Pettai. Immerhin ist mehr als ein Viertel der estnischen Bevölkerung russischsprachig und die Zentrumspartei gilt als ihr politisches Sammelbecken. "Es ist jetzt gut, dass die Minderheit nun an der Regierung beteiligt ist", glaubt der Journalist Holger Roonemaa. Und so unerwartet der Regierungswechsel ist, schon mehrfach in der 25-jährigen Geschichte seit der Unabhängigkeit des kleinsten baltischen Staates wechselten die Machtkonstellationen mitten in einer Legislaturperiode.
Litauen: Von einer Mini- zur Regierungspartei
Der Wechsel an der litauischen Staatsspitze vollzog sich dagegen nach vorgesehenen Wahlen. Überraschender aber war ihr Ausgang. Hatte der "Bund der Bauern und Grünen Litauens" bisher nur einen Sitz im Seimas, dem Vilniuser Parlament, gewann die Partei im Oktober 2016 mit 21 Prozent der Stimmen die Wahlen und stellt mit dem ehemaligen Polizeipräsidenten Saulius Skvernelis seit Ende November den Premier. "Die Umfragen waren völlig vorbei an der Realität", resümiert Vytene Stasaityte, Journalistin bei der Zeitung "Verslo žinios", den Wahlausgang im Oktober. Diese sahen lange die Konservativen vorn. Überraschend war es daher auch, als die Koalitionsverhandlungen zwischen Bauernpartei und den Konservativen geplatzt sind. Ihr Chef, Gabrielius Landsbergis, der Enkel des legendären Freiheitskämpfers Vytautas Landsbergis, verspekulierte sich, indem er auf exklusive Verhandlungen mit den Bauern setzte.
Stattdessen einigte sich die Bauernpartei mit den bisher regierenden Sozialdemokraten, die zusammen nur über eine dünne Mehrheit verfügen. Der alte Regierungschef, Algirdas Butkevičius, wird im neuen Kabinett wohl keine nennenswerte Rolle spielen, bei den Wahlen zum stellvertretenden Parlamentspräsidenten fiel er sogar durch. Während in westlichen Ländern die Flüchtlingsfrage bei den Wahlkämpfen eine große Rolle spielt, war das in Litauen anders, beobachtet die Journalistin Stasaityte. Lediglich die Arbeitspartei, zuvor Koalitionspartner in der Regierung, versuchte mit populistischen Parolen gegen Flüchtlinge Stimmung zu machen. Sie wurde abgestraft und kam nicht ins Parlament. Ebenfalls keine nennenswerte Rolle spielte die Sicherheitspolitik gegenüber Russland. "Denn bei aller politischen Unstimmigkeit sind sich alle Parteien in dieser Frage einig und skeptisch gegenüber unserem Nachbarn", sagt Stasaityte. Das werde sich voraussichtlich auch künftig nicht ändern.