Zwischen Polen und der Exklave Kaliningrad Kleiner Grenzverkehr
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04. Juli 2016, 11:48 Uhr
In der großen Politik gibt es etliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Warschau und Moskau. Doch die kleinen Leute an der gemeinsamen Grenze verstehen sich prächtig. Und der "kleine Grenzverkehr" erweist sich gar als Jobmotor.
Bis zur Grenzöffnung war Braniewo ein verschlafenes Städtchen am Ende der Welt. Nur wenige Kilometer nördlich verläuft die Grenze zwischen Polen und der russischen Exklave Kaliningrad. Seit der Einführung des "Kleinen Grenzverkehrs" mit dem nördlichen Nachbarn ist es auf den Straßen Braniewos aber ganz schön geschäftig geworden, vor allem in der Nähe der großen Supermärkte - und davon kann die Kleinstadt deutlich mehr vorweisen, als die 17.000 Einheimischen eigentlich brauchen. Einige dieser Läden wurden erst vor kurzem gebaut, weitere sollen in den kommenden Monaten folgen. Und das bedeutet nicht nur frisches Geld in der Stadt, sondern auch einige Dutzend neue Arbeitsplätze für die strukturschwache Region.
Neue zahlungskräftige Kunden
Grund für den unverhofften Aufschwung sind Kunden aus Kaliningrad, die seit der Grenzöffnung immer zahlreicher nach Braniewo strömen. Russische Autokennzeichen sind auf den Parkplätzen der Einkaufstempel längst ein gewohnter Anblick geworden. Der wöchentliche oder zweiwöchentliche Einkaufstrip nach Polen gehört inzwischen zu den festen Terminen vieler Kaliningrader Familien. In ihren Einkaufswagen landen vor allem Lebensmittel, Alkohol und Kosmetika, aber auch Kleidung, Heimelektronik und Baumarkt-Artikel. Die Auswahl an westlichen Markenwaren sei hier größer und die Preise deutlich niedriger, erzählen die russischen Käufer. Außerdem bekommen sie bei der Ausreise die Mehrwertsteuer erstattet. Nach Informationen von Radio Olsztyn gibt ein durchschnittlicher russischer Besucher rund 3.000 Zloty in Polen aus. Seit der Einführung des Kleinen Grenzverkehrs hätten russische Staatsbürger Rechnungen im Wert von insgesamt rund 335 Millionen Zloty zur Erstattung dem Grenzschutz vorgelegt, um die Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen (Stand 2015).
Song zum Einkaufstourismus
Der massenhafte Einkaufstourismus ist sogar von der russischen Band "Parovoz" (zu Deutsch: Dampflok) in einem Song verewigt worden: "Ich bin hinter Billigbier und Billigwurst her - Willkommen Lidl, willkommen Biedronka", singen die Musiker in Anspielung auf zwei beliebte Discount-Ketten. Die Idee dazu kam den Musikern, als sie eines Tages in der langen Autoschlange am Grenzübergang Richtung Polen standen. "Wir hatten bereits drei Stunden im Stau verbracht, als die polnische Zöllnerin kam, um unser Autos eine weitere geschlagene Stunde lang zu filzen", erinnert sich Bandleader Timur Titarenko. "Es ist ein inspirierender Anblick, unsere Landsleute dabei zu beobachten, wie sie sich in Polen mit Unmengen von Wurst, Schinken und Käse eindecken, als stünde der Weltuntergang bevor", fügt er lachend hinzu.
Hoteliers haben sich schnell auf die neuen Gäste eingestellt
Doch die Kaliningrader fahren nicht nur zum Einkaufen über die Grenze. Immer mehr von ihnen verbringen auch ihre Freizeit in Polen. Zu den beliebten Reisezielen gehört die Kleinstadt Frombork (Frauenburg) mit ihrer imposanten gotischen Kathedrale, einst die Wirkungsstätte des Astronomen Nikolaus Kopernikus. Sehr beliebt sind aber auch weiter entfernte Ziele wie Gdansk (Danzig) mit seiner prachtvoll restaurierten Altstadt oder der benachbarte mondäne Badeort Sopot (Zoppot). Nach der Grenzöffnung sind die Russen binnen Jahresfrist zur zweitwichtigsten ausländischen Gästegruppe in Danzig und Zoppot, gleich hinter den Deutschen, aufgerückt. Die Hoteliers und Gastwirte haben sich schnell auf sie eingestellt: Russische Speisekarten und Werbeschilder helfen, das Geschäft anzukurbeln, vielerorts wurde sogar sprachkundiges Personal eingestellt. Und neben touristischen Attraktionen bieten die beiden Ostsee-Städte riesige Shopping-Malls, die es in dem kleinen grenznahen Braniewo nicht gibt - auch deshalb lohnt die etwas weitere Anreise.
Völkerverständigung an der Kaufhauskasse
"Russische Kunden hinterlassen ordentlich Geld in unseren Geschäften und Restaurants", sagt Henryk Mrozinski, Bürgermeister der Grenzstadt Braniewo, zufrieden. Ihn freut aber auch, dass die wachsenden Kontakte die Mentalität der polnischen Bevölkerung positiv beeinflusst hätten: "Die Russen werden hier sehr herzlich begrüßt, die Leute lassen auf die 'Russikis' nichts kommen. Die Kaliningrader sind selbst überrascht, wie freundlich wir sie bei uns empfangen", sagt der Bürgermeister. Liebe geht bekanntlich durch den Magen, denn dem ist es egal, ob er polnische oder russische Wurst verdaut – und Völkerverständigung nimmt manchmal den Umweg über den Geldbeutel. Zumindest in der russisch-polnischen Grenzregion. Befürchtungen einiger Bürger Braniewos, durch die Grenzöffnung würde es einen Anstieg der Kriminalität geben, haben sich übrigens - abgesehen vom kleinen privaten Zigaretten- und Spritschmuggel durch polnische Staatsbürger in Kaliningrad – ganz und gar nicht erfüllt.
Kleiner Grenzverkehr Das Abkommen über den "Kleinen Grenzverkehr" zwischen dem Kaliningrader Gebiet und ausgewählten polnischen Landkreisen ist Mitte 2012 in Kraft getreten: Alle Einwohner des Kaliningrader Gebiets und alle Einwohner der grenznahen polnischen Kreise bekommen einen Passierschein, mit dem sie dann ohne Visum einreisen dürfen. Dabei dürfen sie aber das visumfreie Gebiet nicht verlassen, d.h. die Russen dürfen damit noch bis Gdansk (Danzig) fahren, das noch zum grenznahen Gebiet gehört, aber nicht nach Warschau; umgekehrt dürfen Polen, die mit dem Passierschein eingereist sind, in Kaliningrad kein Flugzeug nach Moskau besteigen. Die Passierscheine werden beim ersten Antrag für zwei Jahre ausgestellt und danach um jeweils fünf Jahre verlängert.