Karl-Heinz Kamp, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik
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"Russland boxt eine Klasse zu hoch"

Interview mit dem Sicherheitsexperten Karl-Heinz Kamp

05. Juli 2016, 08:03 Uhr

Angesichts der Spannungen zwischen Russland und dem Westen sprechen viele von einem neuen Kalten Krieg. Doch der Vergleich hinkt, meint Sicherheitsexperte Karl-Heinz Kamp. Unbestritten sei, dass sich Russland wieder mehr Geltung in der Welt verschaffen wolle. Dabei schrecke Präsident Putin aber nicht vor einer aggressiven Politik zurück – und versuche, mit allen Mitteln NATO und EU zu schwächen.

Der russische Premierminister Dmitri Medwedew spricht davon, dass Europa in einen neuen Kalten Krieg geschlittert sei. Stimmt das?

Nein. Ich glaube, dass der Begriff "Kalter Krieg" falsch ist, weil er auf eine ganz bestimmte historische Periode bezogen ist. Aber es stimmt, dass wir mit Russland einen tiefen Konflikt in dreierlei Hinsicht haben. Erstens: Russland definiert sich als antiwestliche Macht. Zweitens: Russland kehrt zurück zur Idee der Einflussbereiche, die es kontrollieren will. Und drittens: Russland ändert Grenzen in Europa mit Gewalt. Dabei dachten wir, dass das überwunden wäre.

Wie kann man das, was gerade passiert, also nennen?

Ich glaube, solche Begriffe, die findet man immer erst nach oder mitten in einer solchen Phase. Hier sind wir aber erst am Anfang. Fest steht, dass das keine vorübergehende einzelne Krise ist, sondern eine fundamentale Veränderung der russischen Politik. Mit anderen Worten: Es ist nicht bloß ein Schlechtwettergebiet, das durchzieht, sondern ein grundlegender Klimawandel.

Wie gefährlich ist dieser "Klimawandel"?

Die Frage ist, für wen gefährlich? Wir haben innerhalb der NATO unterschiedliche Wahrnehmungen der Bedrohung. Da gibt es die Südfraktion - Italien, Frankreich, Spanien - die aus guten geografischen Gründen sagt: 'Unser Hauptproblem ist das, was im Mittelmeerraum, in Nordafrika und im Mittleren Osten passiert'. Und dann gibt es die Ostfraktion, also Polen und das Baltikum, die der Mittelmeerraum wenig interessiert, die sich aber durch ein ähnliches Szenario wie in der Ukraine bedroht fühlt.

Wie unterscheidet sich dieser aufziehende Konflikt mit Russland von dem Kalten Krieg, den wir erkennen?

Ich glaube, dass er in einigen Bereichen ganz anders ist. Der Kalte Krieg hatte zwei Kontrahenten, die beide mehr oder minder gleich stark waren. Das ist heute nicht der Fall. Russland hat zwar den Anspruch, wieder eine große Weltmacht zu werden, kann diesem Anspruch aber in Wahrheit nicht genügen. Das Land boxt sozusagen eine Gewichtsklasse zu hoch. Wenn Sie die wirtschaftliche Situation Russlands betrachten, dann ist es eher eine Macht im Niedergang, und mit einer Macht im Niedergang umzugehen, ist tendenziell schwieriger als mit einer gleichwertigen Macht. Das ist einer der grundlegenden Unterschiede zum Kalten Krieg.

Wie konnte diese Konfrontation nach dem Ende des Kalten Krieges entstehen? Wer ist schuld?

Das ist nicht eine Frage von Schuld. Russland denkt, wir waren mal wer im Kalten Krieg, dann kam der Niedergang in den Neunziger Jahren, wir sind in die Knie gegangen und der Westen hat das ausgenutzt – jetzt sind wir wieder von den Knien aufgestanden und da wollen wir bleiben. Und dieses Ziel Russlands, wieder eine der entscheidenden, globalen Mächte zu werden, ist in Ordnung. Aber die Mittel, die Russland nutzt, um dieses Ziel zu erreichen, sind nicht in Ordnung. Denn Russland weiß, dass es militärisch und wirtschaftlich unterlegen ist, also versucht es, die NATO zu delegitimieren, die EU zu schwächen sowie Brüche und Risse innerhalb dieses westlichen Konglomerats NATO und EU zu schaffen und die bereits vorhandenen Brüche auszunutzen. Und das wird sehr geschickt gemacht, auch mit Mitteln der Propaganda.

Nun lässt Russland aber immer wieder verlauten, dass der Westen wortbrüchig geworden sei, weil die NATO versprochen habe, sich nicht in Osteuropa auszudehnen ...

Dieses Versprechen hat es nie gegeben. Dieses Versprechen kann es auch gar nicht gegeben haben, das hat ja zuletzt Michail Gorbatschow selbst in Interviews gesagt. Es hat Zusagen gegeben im Vorfeld der deutschen Einheit, dass auf dem Gebiet der Ex-DDR bestimmte militärische Stationierungen nicht erfolgen würden. Aber Zusagen in Bezug auf die gesamte NATO können im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung nicht gegeben worden sein, weil man alle NATO-Mitgliedstaaten hätte fragen müssen, und nicht nur einige wenige, die damals am Verhandlungstisch saßen. Und außerdem existierte damals noch der Warschauer Pakt, und es war nicht abzusehen, dass er zerfällt. Und es kann mir niemand erzählen, dass dort bei den Verhandlungen gesagt worden sei, also wenn der Warschauer Pakt mal zerfällt, dann werden wir uns nicht auf dieses Territorium ausdehnen, das macht keinen Sinn.

Neun von zehn Russen glauben das aber. Wird das im Westen ernst genommen?

Ich glaube, Russland hat ein Problem, das sich aus seiner eigenen Denkweise ergibt. Einmal gibt es natürlich diesen Phantomschmerz des untergegangenen Imperiums, den wir nicht vernachlässigen dürfen. Und zweitens hat Russland immer in Einflusssphären gedacht, das hieß früher mal "nahes Ausland". Aus historischer Sicht bedeutete großes Territorium für Russland immer Schutz. Je mehr Territorium man hatte, desto sicherer war man. Und deshalb ist man so fuchsteufelswild auf NATO und EU, weil deren Erweiterung aus russischer Sicht eine Verkleinerung des Einflussbereichs und damit auch des imaginären Schutzbereiches bedeutet. Und in Russland sieht man eine gezielte Strategie des Westens dahinter – was natürlich nicht stimmt, da die osteuropäischen Länder freiwillig der NATO und der EU beigetreten waren, der Westen hat sie ja nicht darum gebeten. Da haben wir einfach komplett unterschiedliche Wahrnehmungen auf beiden Seiten.

Wie groß ist die Gefahr, dass es zu einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen kommen könnte?

Das ist die ganz große Frage, die man nur schwer beantworten kann. Klar ist, dass wir wieder in einem Zeitalter sind, in dem die Sicherheitsgarantie der NATO gemäß Artikel fünf eine Bedeutung hat. Die NATO-Länder versuchen, Signale zu setzten: Wenn es bei euch die Kalkulation gäbe, militärisch gegen die NATO zu handeln, lasst es besser sein, ihr verliert mehr als ihr gewinnt. Was aber letztendlich passiert, wie risikobereit Putin sein wird, das weiß keiner.

Braucht die NATO eine neue Nukleardoktrin?

Die NATO muss sich Gedanken über die Rolle ihrer Nuklearwaffen machen, denn ihre Nukleardoktrin basierte bisher auf zwei Annahmen. Zum einen, dass Russland ein Partner ist, und zum anderen, dass Russland seine Nuklearwaffen nicht gegen die NATO einsetzen wird. Beides gilt nicht mehr. Russland ist kein Partner mehr und Russland simuliert Atomwaffeneinsätze gegen Schweden und Polen. Also muss man jetzt überlegen: Was tun wir dagegen? Die NATO braucht keine neuen Atomwaffen, aber sie muss die Frage beantworten: Wie schrecke ich wen womit ab? Die muss unter den 28 Bündnismitgliedern neu diskutiert werden. Was dabei rauskommt, das kann man jetzt noch nicht sagen.

Vor dem NATO Gipfel in Warschau fordern Polen und die baltischen Staaten, dass die NATO die Russland-Grundakte kündigen soll. Haben sie Recht?

Ich glaube nicht, dass sie Recht haben, denn es gibt eine Grundwahrheit, nämlich dass der Schutz vor Russland und die Zusammenarbeit mit Russland kein Gegensatz sind. Das sind im Prinzip zwei Seiten derselben Medaille. Ob wir nun Russland mögen oder nicht: Es gibt Felder gemeinsamen Interesses. Der Iran-Deal gehört dazu, mögliche Krisen in der Arktis, Syrien – dort brauchen wir Russland. Russland mag uns ja nicht gefallen, aber es ist ein großes Land, es ist ein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und insofern werden wir nicht um Russland herumkommen. In dieser Situation wäre es einfach unklug, Kommunikationskanäle zu kappen, weil das nichts nützt, außer dass man sich vielleicht besser fühlt. Insofern würde ich die Grundakte nicht aufkündigen. Sie mag jetzt keine große Bedeutung haben, aber wenn sich die Lage verbessert, aus welchem Grund auch immer, dann haben wir einen Anknüpfungspunkt, ein Gesprächsforum mit Russland. Das zu zerstören, wäre einfach fahrlässig.

Über dieses Thema berichtet MDR AKTUELL auch im: Radio | 14.09.2017 | 08:09 Uhr

Zur Person

Karl-Heinz Kamp

Karl-Heinz Kamp

... ist Politikwissenschaftler und seit 2015 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Zuvor war er jahrelang als Wissenschaftler und Berater für verschiedene NATO-Einrichtungen tätig.