Ukrainische Einwanderer in Polen: "Die Unsichtbaren"
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29. Mai 2018, 10:34 Uhr
In Polen leben rund zwei Millionen Ukrainer. Die meisten sind Arbeitsmigranten. Doch bislang sind sie in der Gesellschaft fast "unsichtbar", findet der Fotograf Stepan Rudik. Das will er mit seinen Fotos ändern.
Eine verkleidete Frau auf einer Theaterbühne, ein einsamer Boxer im Ring, ein blutjunger Dirigent in einem Konzerthaus: Die Bilder des Fotografen Stepan Rudik zeigen auf den ersten Blick alltägliche Situationen aus verschiedenen Berufen. Auf den zweiten Blick zeigen sie jedoch auch eine Besonderheit, die alle portraitieren verbindet: Sie sind ukrainische Einwanderer in Polen.
Bedingt durch Krisen, Krieg und Perspektivlosigkeit sind hunderttausende in den vergangenen Jahren ins Nachbarland Polen gezogen, zwei Millionen Ukrainer leben dort insgesamt. Der Fotograf Stepan Rudik, selbst Ukrainer, hat sie in seiner Wahlheimat Posen gesucht und portraitiert. Seine Bilder wurden im Frühjahr auf dem Marktplatz von Posen gezeigt. Auf Facebook stellt der Fotograf seine Protagonisten in Bildern und kurzen Biografien vor.
Das Interview mit dem Fotografen
Heute im Osten: Wieso haben Sie sich des Themas ukrainischer Einwanderer in Polen angenommen?
Stepan Rudik: Eigentlich hat sich meine Freundin dieses Projekt ausgedacht. Sie ist zwar Polin, gehört aber zur ukrainischen Minderheit im Land. Von ihr kam auch der Titel: "Die Unsichtbaren". Außerdem bin ich selbst Ukrainer. Ich weiß, was es heißt, in einem fremden Land zu leben, kenne alle Vor- und Nachteile. Das Thema berührt mich also, es ist auch ein Teil von mir.
Deshalb habe ich angefangen, über Bekannte, die selbst Ukrainer sind, andere Ukrainer zu suchen. Das war gar nicht so einfach. Da ich ein Dokumentarfotograf bin, war es für mich wichtig, an die Orte zu gehen, wo diese Menschen arbeiten. Ich wollte die Vielfalt der Berufe zeigen, in denen diese Menschen arbeiten.
In Polen leben aktuell schätzungsweise zwei Millionen Ukrainer. Warum sind sie in Ihren Augen unsichtbar?
Als ich vor zwei Jahren das Projekt begonnen habe, gab es noch nicht so viele Ukrainer in Polen. Damals waren sie wirklich kaum wahrnehmbar. 2017 allerdings, als die Visumfreiheit zwischen der EU und der Ukraine eingeführt wurde, kam eine große Welle von Arbeitsmigranten hierher. Und damit sind sie natürlich auch auf der Straße sichtbar und hörbar geworden.
Aber Ukrainer unterscheiden sich kaum von Polen, was die Hautfarbe, Gesichtszüge und Kleidung angeht. Auf der Straße kann man nie sicher sagen, ob jemand Pole oder Ukrainer ist. Das andere ist, dass die Ukrainer hier hauptsächlich Arbeiten nachgehen, die kaum sichtbar sind: als Bauarbeiter, Küchenhilfen, Putzkräfte. Sind also da, sie sind sehr viele, aber sie bleiben weiterhin unsichtbar – vor allem für Polen.
Warum arbeiten so viele Ukrainer in diesen "unsichtbaren" Berufen?
Nehmen wir Mediziner als Beispiel. In Polen ist es für Ukrainer sehr schwer, ein entsprechendes europäisches Zertifikat zu bekommen, um im medizinischen Bereich zu arbeiten. Deswegen nehmen selbst Menschen mit Hochschulabschluss Jobs auf Baustellen an. Denn weil die wirtschaftliche Situation in der Ukraine schwierig ist, sind die Menschen schlicht gezwungen, jede Arbeit und jeden Lohn zu akzeptieren.
Frauen arbeiten hauptsächlich als Putzfrauen oder Erntehelferinnen, etwa bei der Erdbeerernte. Die Leute leihen sich teilweise Geld in der Ukraine, um hierher zu kommen. Und nach den ersten zwei, drei Monaten hier können sie das Geld dann zurückgeben. So schwierig ist die Situation.
Sie haben die Bilder auch auf dem Posener Marktplatz ausgestellt. Wie haben die Menschen auf die Fotos reagiert?
Konkrete Reaktionen kamen eigentlich hauptsächlich von Ukrainern, vor allem von den Protagonisten meines Projekts. Natürlich sind sie froh darüber, dass ich sie sichtbar gemacht habe. Auch, weil ich über diese Thema rede. Ich war zum Beispiel im Fernsehen und habe Interviews gegeben.
Von den Polen in Posen habe ich persönlich leider bislang noch keine Reaktionen bekommen. Aber ich war fast täglich auf dem alten Markt, wo die Bilder ausgestellt wurden. Das ist ein zentraler Platz, wo viele Touristen aus ganz Europa vorbeikommen und die haben sich sehr für die Bilder interessiert. Aber auch viele Posener waren da und haben sich die Ausstellung angesehen. Das Interesse an dem Thema ist also offensichtlich da.
Welche Geschichte hat Sie während der Arbeit am Projekt am meisten bewegt?
Ich habe ja nicht nur die Arbeitssituation der Menschen fotografiert, sondern auch ein Porträt von ihnen gemacht. Und am Ende unseres Treffens habe ich immer ein Diktiergerät rausgeholt und die Leute gefragt, welche Träume sie haben. Das war für sie eine Überraschung und sie mussten erst einmal etwas darüber nachdenken. Dann sagten die meisten, dass ihnen das Glück und die Gesundheit ihrer Familie und ihrer Kinder am wichtigsten seien.
Konkret jedoch haben mich einige der jungen Einwanderer beeindruckt. Ein Dirigent zum Beispiel, Jaroslaw Schemet aus Charkiw. Mit seinen 23 Jahren hat er schon ein eigenes Orchester, ist vielfach ausgezeichnet und international gefragt. Der hat große Ambitionen.
Viele Einwanderer denken aber, dass es unmöglich ist, sich in einem fremden Land mit einer fremden Sprache zu verwirklichen. Sie glauben, dass sie deswegen nur körperliche Arbeit verrichten können. Menschen wie Jaroslaw Schemet beweisen uns das Gegenteil. Das inspiriert mich selbst, genauso wie andere Ukrainer. Es ist einfach schön, wenn solche Geschichten sichtbar werden.
Zur Person Stepan Rudik wurde 1982 im ukrainischen Ismajil geboren. Er studierte in Kiew Fotografie, gewann 2007 zwei Grands Prix bei internationalen Fotobiennalen in Rivne (Ukraine) und Surgut (Russland). 2010 wurde er Fellow des "Gaude Polonia"-Programms der polnischen Regierung. Rudik lebt seit 2014 im polnischen Posen und arbeitet als freier Fotograf.
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 09.06.2017 | 17:45 Uhr