"Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte"
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Interview mit Polens Ex-Außenminister Radosław Sikorski
05. Juli 2016, 08:05 Uhr
Misstrauen gegenüber Russland ist fast schon ein Wesenszug der Polen. Aufgrund seiner Lage und Geschichte fühlt sich das Volk besonders durch Russland bedroht. Für die meisten Polen ist Russland ein klarer Aggressor in der Ukraine. Aus diesem Grund wünschen sich die polnische Regierung und auch viele Bürger mehr NATO-Truppen im eigenen Land. Polens ehemaliger Außen- und Verteidigungsminister erklärt exklusiv für HEUTE IM OSTEN die polnische Sicht der Dinge.
Polen fordert eine stärkere militärische Präsenz der NATO auf seinem Gebiet. Der Westen argumentiert oft, dass die Grundakte NATO-Russland das verbietet. Was halten Sie davon?
Wir sollten uns vergegenwärtigen, was die Grundakte Russland-NATO von 1997 wirklich beinhaltet. Sie besagt zuallererst, dass beide Seiten die Grundsätze friedlichen Zusammenlebens in Europa beachten werden. Das ist die Bedingung für alles andere, was in der Grundakte steht. Und die Grundakte besagt ferner, unter den Voraussetzungen von damals, als Russland sich an die internationalen Spielregeln hielt, dass die NATO es nicht für nötig hält, auf dem Gebiet der neuen Mitgliedsländer größere Militärverbände bereitzuhalten. Es ist aber keineswegs von einer Verpflichtung die Rede. Und damals war das natürlich vernünftig, da Russland sich friedlich verhielt. Und die nächsten 15 Jahre hindurch gab es buchstäblich keine Militärpräsenz anderer NATO-Mitglieder in der Ostflanke. Und genau das – diese fehlende Präsenz, die fehlenden Übungen, eine Selbstentwaffnung Europas, wenn man so will, haben Russland in Versuchung geführt.
Und deshalb wünscht sich Polen beim Warschauer NATO-Gipfel klare Garantien für die Ostflanke der NATO?
Zunächst einmal muss man beachten, dass die NATO-Garantien keineswegs so kategorisch sind, wie manche glauben. Die NATO-Verträge verpflichten die Mitgliedstaaten nicht, automatisch in den Krieg zu ziehen. Es bleibt den Mitgliedsländern überlassen, auf welche Art und Weise sie dem angegriffenen Bündnispartner zu Hilfe eilen. Die Situation Polens kann man sehr gut mit der Situation Westdeutschlands im Kalten Krieg vergleichen. Die Deutschen haben noch viel stärkere dauerhafte Anwesenheit amerikanischer und britischer Truppen auf ihrem Territorium gefordert. Und ähnlich wie die Deutschen damals sind wir Polen der Meinung, dass vertragliche Garantien nur dann glaubwürdig sind, wenn damit auch die tatsächliche Möglichkeit verbunden ist, diese Garantie zu erfüllen.
Ist aber nicht auch der Westen ein Stück weit an der jetzigen Konfrontation schuld? Liegt die Wahrheit nicht irgendwo in der Mitte?
Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, die Wahrheit liegt da, wo sie liegt. Und die Tatsachen sehen nun mal so aus, dass der Westen seit 25 Jahre abrüstet, Russland dagegen innerhalb der letzten zehn Jahre wahnsinnig aufrüstet. Das zeigt, wer hier das Abenteuer sucht und wer Konflikten aus dem Wege gehen will. Dem Westen war sehr daran gelegen, dass Russland sich schrittweise westlichen Institutionen annähert. Deshalb hat der Westen die Tore für den einstigen Feind weit geöffnet. Russland hat den verwaisten sowjetischen Sitz im UN-Sicherheitsrat geerbt, Russland wurde eingeladen, sich dem G7-Forum anzuschließen, obwohl es die Grundvoraussetzungen nicht erfüllt hat, Russland wurde in den Europarat und in die Welthandelsorganisation eingeladen und so weiter und so fort. Der Westen hat wirklich sehr viel Kraft investiert, um Russland bei der Modernisierung zu helfen, aber es ging um eine ganzheitliche Modernisierung des russischen Staates und der russischen Gesellschaft und nicht nur darum, was die russischen Eliten im Sinn haben, nämlich eine Modernisierung der russischen Technologie, insbesondere der Rüstungstechnologie.
Was bedeutet das aber für die bestehenden Verpflichtungen?
Wir Polen sind generell der Meinung, dass Verträge verbindlich sind - da wir ja selbst in der Vergangenheit darunter gelitten haben, dass sich unsere Partner nicht an Abmachungen hielten. Und genau das sehen wir heute im Fall der Ukraine, die 1994 auf das dritt- oder viertgrößte Atomwaffenarsenal der Welt verzichtet hat und im Gegenzug Garantien für ihre Unabhängigkeit und die Unantastbarkeit der Grenzen erhielt. Doch diese Erklärung von Budapest wird nicht respektiert, von Russland - aber auch von den anderen Garantiemächten. Aus diesem Grund vertreten die polnischen Regierungen schon immer die Meinung, dass an der Ostflanke der NATO eine Infrastruktur entstehen muss, die Russland nicht provozieren, aber doch wirksam abschrecken wird.
Aber nicht alle Länder der Allianz teilen diese Überzeugung…
Einer unserer Staatspräsidenten hat mal gesagt, dass die Europäische Union nicht aus lauter Polen besteht und wir es unseren europäischen Partnern nicht verübeln dürfen, wenn sie aufgrund ihrer geografischen Lage und ihrer unterschiedlichen Interessen eine andere Perspektive auf die Beziehungen zu Russland haben. Als Spanier, Portugiese oder Holländer würde ich mich natürlich nicht so bedroht durch Russland fühlen, weil diese Länder uns als Pufferzone haben. Deshalb muss Polen da besonders taktvoll vorgehen und beharrlich Überzeugungsarbeit leisten, um solche Länder dazu zu bewegen, zum Beispiel zu solchen Instrumenten wie Sanktionen zu greifen oder ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen.
Gibt es ein Szenario, vor dem Sie als Pole besondere Angst haben?
Ein solches Szenario wäre zum Beispiel ein Konflikt zwischen der Volksrepublik China und den Vereinigten Staaten von Amerika in Fernost. In diesem Fall würde Russland zu einem besonders wertvollen, umworbenen Partner für beide Konfliktparteien werden, und ich befürchte, dass unsere Region dann gern geopfert werden würde, um Russland positiv zu stimmen.
Welche Rolle spielt die Ukraine in der russischen Politik?
Russland ist das letzte europäische Land, das den Prozess der Dekolonialisierung durchläuft. Das ist im Falle Russlands umso schmerzhafter, als die Kolonien – also die Ukraine – nicht in Übersee liegen, sondern direkt vor der eigenen Tür und die kolonialisierten Völker den Russen in ethnischer Hinsicht sehr nahe stehen. So etwas ist immer sehr schwierig und verläuft nie unblutig. Die Briten und die Franzosen mussten das auch durchmachen. Und in Russland ging der Zerfall des Imperiums mit einem wirtschaftlichen Kollaps einher und mit einem Wechsel des Wertesystems, mit großen Leiden der russischen Bevölkerung. Die Eigenständigkeit der einstigen Kolonien anzuerkennen, das dauert in jeder Gesellschaft mindestens eine Generation.
Glauben Sie, dass der Ukraine-Konflikt eines Tages so eskalieren könnte, dass es nicht nur zu einem kalten, sondern zu einem richtigen, heißen Krieg kommt?
Was noch vor zehn Jahren unvorstellbar war, ist derzeit zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber doch vorstellbar geworden, leider. Und man muss immer daran denken, warum das so ist. Und das kommt daher, dass zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein wichtiges europäisches Land Staatsgebiet eines Nachbarlandes mit Gewalt annektiert hat unter dem erfundenen Vorwand, eigene Landsleute beschützen zu müssen. Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, dass es in Europa zuhauf Orte gibt, wo die Staatsgrenzen nicht ganz mit ethnischen Grenzen übereinstimmen. Aber wir haben in Europa gelernt, dass Versuche, solche Probleme mit Waffengewalt zu lösen, in einer Katastrophe enden. In Europa lösen wir solche Probleme, indem wir ethnischen Minderheiten weitgehende Rechte einräumen. Auf diese Art und Weise haben wir die Konflikte in Südtirol, Nordirland und an vielen anderen Orten gelöst. Russland dagegen versucht, das Problem auf eine sehr anachronistische und für den Frieden in Europa sehr gefährliche Art und Weise zu lösen.