EU-Sanktionen gegen Polen "Dann könnte es auch ein Verfahren gegen Deutschland geben"
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15. November 2017, 14:57 Uhr
Das EU-Parlament prüft heute, ob es wegen der umstrittenen Justizreform ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen einleiten will. Doch das hat wenig Aussichten auf Erfolg, meint der Politikwissenschaftler Andreas Maurer.
Heute im Osten: Die Sanktionsmöglichkeiten der Europäischen Union gegen Mitgliedsstaaten sind recht begrenzt. Woran liegt das?
Andreas Maurer: Sanktionsmöglichkeiten, die der Europäische Gerichtshof anwenden kann, sind schon sehr effektiv. So urteilte der Gerichtshof im Jahre 2016 in 28 Fällen zu Vertragsverletzungen, die sich gegen Mitgliedsstaaten richteten. 23 Kommissionsklagen wurde hierbei stattgegeben und die Staaten wurden zu Strafzahlungen verdonnert. Aber da beginnt auch das Problem. Es hängt im Prinzip vom guten Willen des Mitgliedsstaates ab, ob er dieses Strafgeld zahlt oder nicht. Trotzdem funktioniert das System ganz gut.
Auf einer anderen Ebene ist das, was wir aktuell beobachten. Das hat ja seinen Ursprung im Jahr 2000, als die rechtspopulistische FPÖ in Österreich an die Macht kam. Da haben sich die EU-Staaten einseitig außerhalb der EU-Verträge geeinigt, die Beziehungen zu Österreich einzufrieren. Das ist auch der Vorläufer für das, was wir heute als Artikel 7 kennen. Denn nach dieser Erfahrung wollte die EU ein geregeltes Verfahren für solche Fälle haben. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass man damals nicht an Österreich, Polen oder Ungarn gedacht hat. Intern wurde der Artikel in Brüssel "Türkenartikel" genannt. Denn damals war die Frage eines Türkeibeitritts nur eine Frage des "Wann"? Die Idee war immer: Das ist ja ein großer und mächtiger Staat. Und für den Fall, dass die dann abdrehen, haben wir diesen Paragraphen.
Dieser Artikel 7 wurde aber bislang noch nicht eingesetzt, um ein Verfahren einzuleiten. Sind die Hürden einfach zu hoch?
Ja, die nötigen Mehrheiten sind extrem hoch. Aber es gibt auch andere Gründe, gerade im Fall Polen. Schauen Sie sich mal die Berufung der Gerichte in den Mitgliedsstaaten an. Der Europarat hat mal festgestellt, dass dieses Verfahren den EU-Beitrittskriterien nur in vier Ländern genügt: in Frankreich, Italien, Norwegen und Dänemark. Also auch nicht in Deutschland! Schauen Sie sich mal an, wie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland zusammengestellt wird oder Richter am Oberlandesgericht ernannt werden. Das ist ein großes Parteiengeschacher.
Da es in einer Mehrzahl der Mitgliedsstaaten so aussieht, tun die sich nun schwer damit, sich den einen Mitgliedsstaat rauszupicken und deswegen anzufeinden. Wenn sich die EU-Kommission nämlich entschließt, wegen einer der drei Justizreformen gegen Polen nach Artikel 7 vorzugehen, dann könnten sich andere überlegen, ein analoges Verfahren gegen Deutschland, Österreich oder andere Staaten anzustrengen. Und dann müsste die Kommission das genauso intensiv verfolgen.
Im Fall Polen scheint die EU aber trotzdem unter Druck, etwas unternehmen zu müssen. Welche anderen Mittel außer Artikel 7 hätte die EU denn, um Polen "wehzutun"?
Nun hat die Kommission heute (am 27.07.2017, Anm. d. Red.) einen "Vorratsbeschluss" verabschiedet. Das heißt, erstens einen Antrag für ein klassisches Vertragsverletzungsverfahren im Hinblick auf Verletzung der EU-Werte, wie sie in Artikel 2 des EU-Vertrags definiert sind. Und zweitens ein sogenanntes Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7, das bis hin zur Aussetzung der Stimmrechte Polens im EU-Rat führen kann. Wahrscheinlicher ist der erste Fall: Abhängig davon, was von den Gesetzen in Warschau wirklich umgesetzt wird, startet die EU-Kommission ein Verfahren beim Europäischen Gerichtshof. Das dauert dann zwei, drei Jahre, bis irgendwas passiert.
Im zweiten Fall des Artikel 7 müssten die Mitgliedsstaaten aber einstimmig für ein solches Verfahren stimmen. Da ist schon jetzt klar, dass sich Polen und Ungarn gegenseitig schützen würden. Also gibt es unter Juristen die Überlegung, ein Doppelverfahren gegen die beiden anzustrengen. Dann hieße es in der Abstimmung also nicht 27 gegen einen, sondern 26 gegen zwei. In diesem Fall können Budapest und Warschau sich nicht gegenseitig die Stimmen leihen. Aber das halte ich für unwahrscheinlich.
Eine weitere Variante ist die Verknüpfung von Strukturfördergeldern an die europäischen Rechtsstaatsgrundsätze. Das heißt, dass man keine Gelder aus diesen Töpfen mehr auszahlt, wenn diese Grundsätze verletzt werden. Das würde Polen als größtem Nettobezieher in der EU besonders treffen. Das geht im jetzigen Förderrahmen bis 2020 aber nicht. Danach könnte man darüber nachdenken.
Das hieße im Umkehrschluss: Die EU-Verträge müssten verändert werden, damit Sanktionen besser durchgesetzt werden können. Ist das aber überhaupt realistisch?
Um irgendetwas in den Verträgen zu ändern – etwa das Verfahren zu Artikel 7 - bräuchte es wieder die Einstimmigkeit. Das heißt, sie bräuchten die explizite Zustimmung der Polen oder Ungarn. Das ist sehr unwahrscheinlich.
Gibt es dann irgendeine Alternative, wie EU mehr Handhabe gegen aufmüpfige Mitgliedsstaaten bekommen kann?
Selbst die schlimmste Waffe im Artikel 7-Verfahren – die Aussetzung vom Stimmrechten – ist ja immer nur vorübergehend. Das ist eine Strafe, die dann auch irgendwann ausgesessen ist. Und danach gilt dieser Staat auch als rehabilitiert. Darüber hinaus gibt es ja auch kein Rausschmissrecht in der EU. Man kann freiwillig in die EU eintreten und austreten. Aber niemand kann rausgeworfen werden.
Was sich aber ankündigt ist, dass bestimmte Staaten in verschiedenen Bereichen vertragskonform voranschreiten. Nennen sie das "Kerneuropa" oder wie auch immer. In der Verteidigungspolitik passiert das etwa bereits. Und innerhalb der Eurozone gibt es ja solche Ideen auch, etwa aus Frankreich und Deutschland. Das würde sich dann aber nur auf Finanzfragen beschränken und hätte keinen Einfluss auf den Kern der Europäischen Union: den Binnenmarkt.
Wenn sie da aber wirklich eine Teilung in ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" machen wollen, dann müssten sie die EU-Verträge auflösen. Dann müssten im Prinzip alle "Europafreundlichen Staaten" aus der EU austreten und sagen: "Sollen die Spinner doch drinbleiben, wir machen was Neues." Dann wären die anderen Staaten weiterhin EU-Mitglieder, aber die gäbe es so nicht mehr.
Dr. Andreas Maurer
ist Professor für Europäische Integrationsforschung und Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Er hat Politik-, Verwaltungs- und Rechtswissenschaft sowie Soziologie und Sozialpsychologie an den Universitäten Frankfurt/Main, Paris (IEP), Marseille und dem Europa-Kolleg Brügge studiert. Seine Schwerpunkte liegen auf der Untersuchung der europäischen Vertragsentwicklungen, des Europäischen Parlaments, und der europäischen Handelspolitik.
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: Fernsehen | 26.07.2017 | 19:30 Uhr