Handwerk in Russland Zwischen Improvisationskunst und professionellem Handwerk
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Von Markus Reher
30. November 2015, 16:11 Uhr
In Russland ist jeder Mann ein Heimwerker: Man baut, schraubt und werkelt, sei es in der Wohnung oder auf der Datscha. Improvisation ist alles. An gut ausgebildeten Handwerkern aber mangelt es.
Zum Glück musste ich nur selten einen Handwerker rufen in den etwas über neun Jahren, die ich in Moskau gelebt habe. Doch dann stand einmal Wasser im Bad. "Pawel, ich habe eine Überschwemmung, und bei Swetlana tropft es auch schon von der Decke", rief ich hektisch ins Handy. Pawel war mein Vermieter und Svetlana wohnte unter mir. Sie hatte mich bei der Arbeit angerufen. Ich eilte nach Hause. Pavel kam auch bald und brachte einen "Santechnik" mit, einen Installateur. Ein älterer kleiner Mann mit dicker Hornbrille und Kapitänsbart in abgewetztem Blaumann und Gummistiefeln stand neben ihm in der Tür. Gerade wollte ich ihm noch zurufen: "Stiefel aus!", da war er auch schon ins Bad geschlurft und machte sich am Abflussrohr zu schaffen. Mit einer mehrfach gewundenen rostigen Metallspirale fuhrwerkte er darin herum und peitschte dabei den Dreck gegen die Fliesen. "Können Sie denn nicht ein bisschen vorsichtiger sein!", herrschte ich den "Santechnik" an. Doch der machte wortlos weiter. Nach einer Weile meinte er, jetzt müsse es wieder gehen. Doch das Wasser floss noch immer kaum ab. Fragend schaute ich den "Santechnik" an. Mehr könne er nicht tun, sagte er. Da habe sich wohl irgendwo etwas angestaut, wo er nicht mehr hinkomme mit seiner Eisenschlange. Ganz offensichtlich habe jemand die Abflussrohre zu flach verlegt. Dann zog er ab. Das Problem aber blieb …
"Instandhaltungs-Brigaden" statt Handwerksmeister
Selbstständige Handwerksmeister, hatten mir russische Kollegen erzählt, hätten nicht zur Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates gepasst. Wenn es etwas zu reparieren oder zu installieren gab, dann seien Instandhaltungs-"Brigaden" angerückt. Leidlich ausgebildet, mäßig motiviert, aber dafür von den kommunalen Hausverwaltungen in allen Problemfällen eingesetzt. Dieser Mann bei mir im Bad musste wohl noch aus dieser Zeit gestammt haben, dachte ich, als ich lüftete und das Bad wischte.
Ein irrer Duft von Erbsensuppe
Einmal begann es in meiner Wohnung penetrant nach Essen zu riechen. Durch Bad und Wohnzimmer waberte der Geruch von Zwiebelsuppe und Erbseneintopf. Zunächst vermutete ich, er komme aus dem Treppenhaus. Doch dann entdeckte ich in Wohnzimmer und Bad kleine Lüftungsgitter unter der Decke. Daher müssen die Eintopfdämpfe kommen! Das Lüftungssystem des Hauses muss kaputt sein, schlussfolgerte ich und rief Pawel, meinen Vermieter, an. Der befand sich gerade außer Landes und bat mich, die Sache selbst beim "Dispetcher", der Telefonzentrale der Hausverwaltung, vorzubringen. Die würden mir auf jeden Fall weiterhelfen. "Was? In Ihrer Wohnung riecht es nach Essen? Dann müssen Sie besser lüften!", beschied mir jedoch barsch eine Frau. "Was? Sie glauben, dass kommt aus der Lüftung? Das kann nicht sein! Die Lüftung ist an den Kamin angeschlossen. Die Luft aus den Wohnungen steigt durch die Lüftungsschächte nach oben und zum Schornstein hinaus." Ich redete mit Engelszungen auf die Dame ein und sie versprach, jemanden vorbeizuschicken.
Nach zwei Tagen klingelte es endlich an meiner Tür. Ein Mann mittleren Alters in dunklen Karottenjeans und Wildlederblouson stand davor. Über seiner Schulter hing eine Klappleiter. Ich zeigte ihm Bad und Wohnzimmer. Er sagte: "Ich rieche nichts." - "Es kommt aus der Lüftung", sagte ich und zeigte ihm das kleine Gitter in der Wohnzimmerwand. Er kletterte auf seine Klappleiter und schraubte das Lüftungsgitter ab. Dann hielt er eine Serviette vor die Lüftungsöffnung. Der Luftzug saugte das Papier an. "Sehen Sie", strahlte er, "alles in Ordnung, die Lüftung funktioniert. Sie saugt die Luft aus dem Zimmer in den Kamin." - "Aber es riecht doch hier!" – "Vielleicht haben die Nachbarn", mutmaßte mein Handwerker, "eine Dunstabzugshaube bei sich eingebaut und diese an das Lüftungssystem angeschlossen. Dann pustet die Ihnen natürlich all die Küchenschwaden ins Zimmer. Aber da kann ich nichts machen. Reden Sie mal mit Ihren Nachbarn, die sollen was anderes kochen."
Jung, smart, professionell: Handwerker mit Rucksack
Ein anderes Mal pfiff der eisige Winterwind durch die neuen Kunststofffenster in meiner Wohnung. Wieder rufe ich Pawel an. Der verspricht, zwei Freunde vorbei zu schicken, die das schnell erledigen würden. Ich erwartete nach all meinen Erfahrungen nichts Gutes. Doch als ich die Tür öffnete, standen zwei junge Männer vor mir - in Arbeitsschutzkleidung und mit Rucksäcken statt Handwerkskoffern. Bevor ich sie einließ, fragte ich vorsichtig, ob sie nicht ihre Schuhe ausziehen könnten. "Das ist doch selbstverständlich!" Und schon zauberten sie aus ihren Rucksäcken ein paar leichte Arbeitsschuhe. So etwas hatte ich selbst in Deutschland noch nicht erlebt! Danach nahmen sie die Fenster in Augenschein, holten Teppichmesser und lange schwarze Gummischlangen aus ihren Rucksäcken. "Wahrscheinlich sind die Dichtungen porös", erklärte einer der beiden jungen Männer. Sie breiteten Schutzplanen auf Fensterbänken und Boden aus und legten los. Bald schon hatten sie die Dichtungen ausgetauscht und zogen schnell noch ein paar Schrauben an Flügeln und Rahmen nach. Die beiden, so schien es mir, hatten ihr Handwerk gelernt.
Im Alltag herrscht noch die Kunst der Improvisation
Wahrscheinlich gibt es längst viele solcher Profis unter Russlands Handwerkern. Und sicherlich gibt es auch wahre Meister. Irgendwer muss ja die Pracht der Kremltürme und Kirchenkuppeln in Stand halten. Doch im Alltag ist von Kunstfertigkeit und Können noch nicht so viel zu spüren. Da herrscht oft noch die Kunst der Improvisation.
Unser Autor Markus Reher, Journalist und TV-Autor, berichtete von 2006 bis Juni 2015 unter anderem für arte, Deutsche Welle und RTL aus Russland, der Ukraine, Weißrussland und den baltischen Staaten.