Polen Kampf gegen den Azubi-Schwund
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26. November 2015, 12:36 Uhr
Junge Polen haben keine Lust auf Handarbeit. Handwerker gelten ihnen als Hinterwäldler, die nicht einmal Computer bedienen können. Viele Jugendliche möchten lieber Ingenieur werden. Und so müssen sich die Handwerkskammern etwas einfallen lassen.
Mit flinken, akkuraten Bewegungen arbeiten sich die Hände über den Stoff. Drei Stiche, ein Schnitt, ein prüfender Blick. Henryk Krupa beherrscht sein Handwerk in allen Facetten. Nächstes Jahr feiert der Schneidermeister sein 70. Dienstjubiläum. Seit Kriegsende fertigt der 86-Jährige im Stadtzentrum von Posen Herrenanzüge. "Ohne das hier kann ich nicht leben. Wenn ich mit dem Schneidern aufhöre, dann geht es auch mit mir zu Ende", sagt Krupa ohne einen Anflug von Gram. Sein Handwerk aufgeben zu müssen, das beschäftigt Krupa schon seit Längerem, und zwar aus ganz praktischen Gründen: "Auszubildende hatten wir seit mindestens zehn Jahren nicht mehr. Wir haben die Stellen ausgeschrieben. Aber es kommt keiner."
Ingenieur statt Handwerker
So geht es vielen polnischen Handwerksbetrieben. Denn während sich die Zahl der Studenten seit dem Ende des Kommunismus vervielfacht hat, entscheiden sich immer weniger Schüler für eine Berufsausbildung. Gerade einmal 200.000 Berufsschüler gab es 2014. 20 Jahre zuvor waren es viermal so viele. Der Grund dafür: Die "gewachsenen Ansprüche der Schüler". So jedenfalls sieht das Tomasz Wika, Direktor der Handelskammer Großpolen in Posen. Er beobachtet seit Jahren den Trend, dass junge Polen lieber Ingenieur werden wollen, statt mit den Händen zu arbeiten. Und dazu können die Schüler bereits nach der 9. Klasse die passende Schulform wählen.
Kellerkinder
Das polnische Schulsystem unterscheidet sich grundlegend vom deutschen. Nach neun gemeinsamen Jahren auf einer Grund- und Mittelschule endet die Schulpflicht. Dann haben die Jugendlichen diverse Optionen. Es gibt vier unterschiedliche weiterführende Schultypen, die wahlweise für ein Studium oder einen Beruf qualifizieren, oder beides. Die klassische "Berufsschule" genießt dabei den schlechtesten Ruf. "Viele Jugendliche glauben, Handwerker seien Leute, die in einem Keller irgendwelche einfachen Arbeiten ausführen", ärgert sich Tomasz Wika. Seine Handwerkskammer setzt deshalb auf Imagepflege: "Wir wollen vermitteln, dass Handwerker auch Computer benutzen." Auch neue, attraktivere Ausbildungsberufe sollen helfen. So wie beim Vorzeigeprojekt der Handwerkskammer.
100 Autos, 330 Motorräder und noch ein bisschen Kleinkram
Besichtigen kann man dies in einer unscheinbaren Lagerhalle zwanzig Kilometer außerhalb Posens, bei Zbigniew Kopras. Breit lachend führt der graubärtige Mitfünfziger durch seine Werkstätten, die einer Techniksammlung gleichen. "100 Autos, 330 Motorräder und noch ein bisschen Kleinkram", freut sich Kopras beim Gang über das Gelände. In einem kleinen Raum stehen drei dürre Teenager an einem meterlangen Arbeitstisch und zerlegen einen Motor. "Die Jungs werden zu Motorradmechanikern ausgebildet. Das ist die erste Klasse in diesem Beruf in ganz Polen seit dem zweiten Weltkrieg überhaupt", erklärt Kopras stolz. Die Idee kam dem KFZ-Meister und Motorradenthusiasten vor acht Jahren. Viele Kollegen hätten schlicht zu wenig Ahnung von Motorrädern. Also sprach Kopras zusammen mit Handwerkskammer-Direktor Wika beim Bildungsministerium in Warschau vor. Unzählige Male. Und immer vergeblich. Am Ende half der Zufall: Auf einer Bildungskonferenz trafen die beiden Männer die damalige Bildungsministerin. "Da reichten dann fünf Minuten, um sie von unserer Idee zu überzeugen", erinnert sich Kopras.
Theorie + Praxis = Erfolg
Fünf Auszubildende hat er seit September. Eine Woche lernen sie in der Berufsschule, darauf folgt eine Woche im Betrieb. "Hier sollen sie das Praktische lernen. Die Teile anfassen und sich ausprobieren. Das ist wichtig und passiert in Polen noch zu selten", erklärt Kopras. Das duale System aus Schule und Praxis überzeugte auch das Ministerium. So versprach die Ministerin, künftig auch andere Ausbildungsberufe stärker auf die Praxis auszurichten.
Die weiteren Aussicht: Es bleibt trüb!
Neue Ausbildungsberufe, mehr Praxis, besseres Image: Die Betriebe und Handwerkskammern bemühen sich redlich, dem Schwund der Auszubildenden entgegenzuwirken. Doch das größte Problem bleibt der demografische Wandel. Eine Polin bekommt im Schnitt 1,3 Kinder. Diesseits der Grenze kämpft das Handwerk mit ähnlichen Problemen, die Geburtenrate ist sogar noch niedriger. Und so werben auch deutsche Betriebe mittlerweile um Auszubildende aus Polen, jedoch weitgehend erfolglos.
Maßanzüge online
Schneidermeister Henryk Krupa schaut trotzdem optimistisch in die Zukunft. Vor zwei Jahren stieg sein Enkel Karol Rzeszutko in die Firma ein. Der 31-Jährige war bis dahin erfolgreich in der Logistikbranche tätig, verdiente überdurchschnittlich. "Aber ich wollte so nicht leben. Ich wollte meine Ruhe haben und selber verantwortlich für mein Leben sein. Das habe ich hier gefunden", rekapituliert Rzeszutko, während er das Futter eines Jacketts näht. Die Technik hat er vom Großvater gelernt; der dafür von ihm Marketing. Mittlerweile verkaufen die beiden ihre handgefertigten Maßanzüge online. Die Auftragsbücher sind randvoll.
Unser Autor Alexander Hertel wurde 1988 als Sohn einer Deutschen und eines Polen in Bernau geboren. Er studierte in Leipzig Politikwissenschaft, Slawistik und Hörfunkjournalismus. Seit 2015 lebt und arbeitet er als freier Korrespondent in Warschau.