Donezk: Frieden im Krieg
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17. Oktober 2017, 15:13 Uhr
Während an der Front noch jeden Tag geschossen wird, versuchen die Führer der "Volksrepubliken", den Bürgern von Donezk Normalität zu suggerieren. Und die finden tatsächlich zum gewohnten Alltagsleben zurück.
Was war Donezk noch im Frühjahr 2014 für eine Stadt! Die Hauptstadt des Donbass mit ihrer knappen Million Einwohner war sowjetisch und modern zugleich: Prachtstraßen im Zentrum und Plattenbauten am Rand, dazwischen aber 20-stöckige Bürotürme, wie sie auch in Berlin stehen könnten, Einkaufszentren und ein großartiges Fußballstadion, in dem mit Schachtar Donezk der beste Club der Ukraine einen Titel nach dem anderen einfuhr. Neben den Beamten, den Kohle- und Industriearbeitern hatte sich eine Mittelschicht entwickelt, die auch mal im Café frühstückte, die sich einen Volkswagen und manchmal einen Urlaub in Westeuropa leisten konnte.
Zur Normalität zurückgefunden
Davon ist zwei Jahre nach Ausbruch des Krieges wenig übrig geblieben: Die Bürotürme und Einkaufszentren stehen leer, die schicken Läden von Armani bis Gucci an der Hauptstraße Uliza Artjoma erst recht. Aber das Leben hat seit den schwersten Kriegsmonaten während der Jahreswende 2014/2015 doch wieder zu einer überraschenden Normalität zurückgefunden.
In der Donbass Opera, vor dem Krieg eines der drei besten Opernhäuser der Ukraine, wird nicht nur regelmäßig vor vollem Haus musiziert. Inzwischen bekommen die Sänger und Musiker auch wieder ein Einkommen – zwar nur ein paar hundert Euro, aber die immerhin regelmäßig. Regelmäßig bekommen auch Rentner, Lehrer und andere Staatsangestellte ihre Renten und Gehälter. Es ist nicht viel, aber man kann davon leben. Nachdem die Ukraine Ende 2014 die Zahlungen eingestellt hatte, mussten die Menschen monatelang von ihrem Ersparten leben. Das meiste Geld kommt seitdem aus Russland, einen kleinen Teil steuern die Volksrepubliken aus dem eigenen Budget bei.
Verdient und bezahlt wird fast ausschließlich in russischen Rubeln, für die man in den vielen Supermärkten russische Waren bekommt. Das Leben ist deshalb etwas teurer als in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten des Donbass und – so gesteht es fast jeder in Donezk ein – die ukrainischen Lebensmittel sind besser als die russischen.
Die Führer der Volksrepubliken versuchen ihren Bewohnern zu vermitteln, dass man eigentlich ganz gut leben kann unter den Bedingungen eines nicht anerkannten Staates. Im Separatistensender "Oplot", der früher von aggressiver Kriegspropaganda geprägt war, berichtet nun ein junger Moderator täglich in seiner Sendung "Gute Nachrichten" von Basketballturnieren, Hip Hop-Wettbewerben und Strandpartys.
Scheinbar friedliches Alltagsleben
Die Machtfrage in den Volksrepubliken ist geklärt, in Donezk ist in allen Zeitungen nur ein Gesicht zu sehen: Republikführer Alexander Sachartschenko. Deshalb gibt es keine Attentate und Kämpfe der Separatisten untereinander mehr. Im scheinbar friedlichen Alltagsleben kommt es allerdings nach wie vor zu willkürlichen Verhaftungen durch den Geheimdienst. Hinter vorgehaltener Hand hört man von jungen Männern, in deren Autos ukrainische Symbole gefunden wurden und die für Monate im Gefängnis verschwanden. Dort landen auch Geschäftsleute, die den Geschäftsinteressen der Republikführer ins Gehege kommen.
Pragmatismus
Aber davon bekommt der Normalbürger wenig mit. Die Behörden erlauben den Menschen jenen Pragmatismus, der auch das Leben in der von Moldawien abgespaltenen Republik Transnistrien prägt. Die Autofahrer haben ihre Wagen bei der "DNR" (Donezker Volksrepublik) registriert, aber fahren natürlich noch mit ukrainischen Kennzeichen – weil die DNR-Kennzeichen niemand anerkennt. Damit fahren sie – auch wenn es an den ukrainischen Checkpoints stundenlange Wartezeiten gibt – in die Ukraine, in den Urlaub, zu Verwandten oder um ihre Papiere zu erneuern. Denn derselbe Pragmatismus gilt für den Umgang mit Pässen: Der eine oder andere besitzt inzwischen einen DNR-Pass. Den ukrainischen Pass behalten die Menschen aber ganz sicher.
Der Pragmatismus betrifft auch die Wirtschaftsbeziehungen zur Ukraine: Die großen Unternehmen, etwa von Oligarch Rinat Achmetow, dürfen weiter produzieren und exportieren, obwohl sie Steuern in der Ukraine bezahlen. Welche Deals dabei im Hintergrund geschlossen wurden, bleibt geheim. Auch die hochwertige Kohle aus dem Donbass wird inzwischen problemlos in Richtung Ukraine geliefert.
Kein Gefühl von unmittelbarer Bedrohung mehr
Der Krieg ist auch weitgehend aus dem Straßenbild verschwunden. In der Stadt sind keine Panzer oder Haubitzen mehr zu sehen, keine wilden Gesellen in Camouflage und mit Kalaschnikows. Und nachts klirren nicht mehr die Scheiben, nur noch leise hört man aus Richtung des Flughafens, wie Separatisten und ukrainische Soldaten einander beschießen. Aber das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung ist weg.
Es ist auch weg, weil als Ergebnis des Minsker Abkommens die meisten schweren Waffen von der Front abgezogen wurden. Nun stehen Separatisten und die ukrainische Armee an "Hotspots" wie dem Flughafen Donezk oder der Stadt Awdijewka nur hunderte Meter voneinander entfernt und beschießen einander regelmäßig aus kleineren Kalibern – aber die Projektile fliegen nur noch selten in Wohngebiete. Die Monitoring-Mission der OSZE zählt seit Mai eine beständig steigende Zahl von Verletzungen des Waffenstillstandsabkommens.
Bleiben oder gehen?
Der Modus "Überleben" ist damit vorbei, die Menschen leben wieder. Aber sie stellen sich nun wieder grundsätzliche Fragen, zuallererst: Gibt es hier eine Zukunft? Hält der heutige Schwebezustand an?
Bleiben werden Donezk jene, die keine Wahl haben: Rentner, Beamte und Bergmänner. Aber die jungen Donezker, die sich heute fragen, was sie später einmal mit dem Diplom einer Universität in einer nicht anerkannten Republik anfangen können, werden den "Volksrepubliken" den Rücken kehren.
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 07.07.2017 | 17:45 Uhr